Vorgestellt wurde das Erinnerungsbuch im Hochschulgebäude Hadwig der Pädagogischen Hochschule St.Gallen. Das ist einer der Räume, in denen die Befreiten vor 80 Jahren vorübergehend untergebracht wurden.
Das Bild auf der Leinwand zeigt einen neunjährigen, lächelnden Buben mit einem Soldaten, der ihm die Hand auf den Kopf legt. Um sie herum liegen – vorwiegend ältere – Menschen auf dem Boden im Stroh zwischen Koffern und Taschen.
Wenige Augenblicke später ist die Aufnahme dem Bild eines Videocalls gewichen. Zu sehen ist Bob Narev, der Junge aus dem Schwarz-Weiss-Foto, damals noch Robert Narewczewitz. Zwischen den beiden Bildern liegen 80 Jahre. Der Ort auf dem Foto ist der gleiche, an dem an diesem Donnerstagabend Bob Narev aus Auckland (NZ) zugeschaltet wird: Die heutige Aula des PHSG-Hochschulgebäudes Hadwig.
Es ist die Buchvernissage für «Wir machen einen grossen Schritt ins Leben – Die aus dem Ghetto Theresienstadt Befreiten in der Schweiz: Lebenswege und Erinnerungen», herausgegeben von Thomas Metzger und Helen Kaufmann von der Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte der Pädagogischen Hochschule St.Gallen (PHSG).
Das Buch beschreibt die Befreiungsaktion, in deren Rahmen am 7. Februar 1945 1200 als Juden Verfolgte nach St.Gallen gelangten. Die meisten von ihnen wurden während der ersten Tage im damaligen Primarschulhaus Hadwig einquartiert, das zum «Desinfektionslager» umfunktioniert worden war.
Ausgehandelt wurde die Rettungsaktion von Recha und Yitzchok Sternbuch sowie alt Bundesrat Jean-Marie Musy mit dem Reichsführer SS Heinrich Himmler.
Die Mutter überzeugt, mitzufahren
Im Gespräch schildert Bob Narev – geboren im deutschen Eschwege, drei Wochen nach dem Erlass der «Nürnberger Rassengesetze» 1935 –, wie er seine Mutter überredet habe, in Theresienstadt in den Zug zu steigen, von dem die Wenigsten im Ghetto glaubten, dass er tatsächlich in Richtung Schweiz fahren würde.
«Ich als Neunjähriger überzeugte sie davon, dass es schön sein würde, nochmals eine Zugreise zu unternehmen.» Er habe die Ankunft in der Schweiz als warmen Empfang empfunden und drückt seine Dankbarkeit darüber aus, wie für ihn gesorgt worden sei. Er und seine Mutter emigrierten später nach Neuseeland.
Bob Narev wurde Anwalt und heiratete eine andere Holocaust-Überlebende. Bis heute tritt er vor Schulklassen und erwachsenem Publikum auf, um zu verhindern, dass der Holocaust in Vergessenheit gerät. Erst kürzlich hatte er seinen 125. Auftritt.
Antisemitisches Einwanderungsregime
Zuvor hatte Thomas Metzger aufgezeigt, dass der Empfang, der den Ankommenden bereitet wurde, nicht immer ein warmer war: «Unverzüglich wurde darauf gepocht, dass die Aufnahme der 1200 nur vorübergehender Natur sein sollte. Die offizielle Schweiz blieb weiterhin ihrer sogenannten Transitland-Doktrin treu.»
Diese war eingebettet in eine restriktive Migrations- und Flüchtlingspolitik, die von einem antisemitisch geprägten Anti-Überfremdungsdiskurs beeinflusst war.