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09.05.2023

Ein Ustermer in Russland

Ein Bild aus ruhigere Zeiten: Walter Denz in seinem Schulbüro in St. Petersburg. Bild: zvg
Der Ustermer Walter Denz lebte 30 Jahre in St. Peterburg und war als Sprachschulleiter und Reisebürobesitzer erfolgreich. Durch den Krieg musste er alles neu organisieren und nach Lettland umziehen.

Eigentlich wäre Walter Denz nun in St. Petersburg. In der früheren Zarenstadt führt er die Sprachschule «Liden & Denz» sowie ein Reisebüro. Als Ende Februar 2022 Putins Truppen in die Ukraine einfielen, war er zufälligerweise auf Urlaub in seiner früheren Heimat Uster.

So erhielt er die Chance, seine berufliche Situation aus der sicheren Halbdistanz zu reorganisieren. Dabei wurde er schnell mit der wirtschaftlichen Existenzfrage konfrontiert. Hatte sich die Branche eben erst von der Pandemie erholt, sah sie sich durch den Krieg wieder jäh gestoppt. Denz blickt zurück: «Gleich zu Beginn habe ich realisiert: Die Situation wird sich zu einem Riesenproblem entwickeln.» Bereits geplante Sprachreisen wurden abgesagt.

Neue Zweigstelle in Riga

Zahlreiche internationale Konzerne zogen sich aus Russland zurück und damit auch das ausländische Personal, das zur Kundschaft von Denz gehörte. Der Unternehmer stellte auf Online-Unterricht um und eröffnete in der lettischen Hauptstadt Riga eine neue Zweigstelle.

Vorfreude auf die Eishockey-WM

Dort befindet sich Walter Denz ab dem 21. Mai – und freut sich auf viele Schweizer Besuchende. Riga ist der Spielort der Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft an der diesjährigen WM. Erst für ein allfälliges Halbfinal müsste die Mannschaft von Trainer Patrick Fischer ins finnische Tampere dislozieren.

Doch zurück zu Walter Denz. Derzeit pendelt der 58-Jährige zwischen Uster und Riga. Das Geschäft in St. Petersburg organisiert seine russische Ehefrau. Die drei Kinder befinden sich in der Schweiz.

Viele Exil-Russen in Riga

Das Hauptgeschäft aber läuft in Riga. Der Bedarf an Russischkursen sei in Lettland vorhanden. Nicht nur wegen der Westeuropäer. Nirgendwo in Europa wird die Sprache von einem grösseren Teil der Bevölkerung gesprochen: Mehr als 37 % der rund 1,9 Millionen Einwohner:innen des kleinen baltischen Staates sind russischer Muttersprache. Bis zur Unabhängigkeit Letttlands vor 33 Jahren war Russisch die offizielle Sprache.

Seit dem Ausbruch des Krieges haben unter anderem auch unabhängige russische Medien, die das Land verlassen haben, Exil-Redaktionen in Riga gegründet. Dazu kommen Flüchtlinge aus der Ukraine sowie Leute aus dem Tech-Sektor, die Russland ebenfalls den Rücken gekehrt haben.

Nicht überall im baltischen Land wird die russischsprachige Minderheit begrüsst. Der Kreml beschuldigt Riga, diese zu unterdrücken. Immer wieder kommt es ihretwegen zu Spannungen zwischen den Nato-Mitgliedern Lettland und Russland. Er selber habe von offizieller Seite keine Vorbehalte erfahren, sagt Denz. Sein Bonus: Er kam als Schweizer Investor nach Riga.

Das soziale Gewissen – und das Bangen um die Sicherheit

Für seinen Entscheid, Russland nicht wie andere westliche Geschäftsleute vollständig zu verlassen, wurde der Schweizer auch kritisiert. Als Arbeitgeber steht Denz zu seiner sozialen Verantwortung. Er könne seine jahrzehntelangen Mitarbeitenden nicht im Stich lassen. Im Rahmen seiner Tätigkeit sei er auch schon aufgefordert worden, sich klar gegen den Konflikt in der Ukraine zu positionieren. Doch dies könne er allein aus Sicherheitsgründen nicht: «Kritik am Vorgehen der russischen Armee ist ein Strafbestand.»

Und wie ist das Leben in Russland in diesen kriegerischen Tagen? Denz: «An der Oberfläche herrscht 'Business as usual'.» Vor Jahresfrist sei dies noch ganz anders gewesen. Angst, Schock und Unsicherheit waren greifbar. Es herrschte eine bleierne Atmosphäre: «Die Menschen fürchtete sich davor, etwas Falsches zu sagen.» Mit der Zeit habe dann die Verdrängung eingesetzt, wohl auch bei ihm selber, wenn er im Land weilt. Heute sind die Restaurants voll, genauso wie die Regale in den Lebensmittelgeschäften. 

Irgendwann würde Walter Denz wieder gerne permanent nach St. Petersburg zurückkehren: «Ich habe mehr als die Hälfte meines Lebens in Russland verbracht. Meine Reise ist noch nicht zu Ende.» Und trotzdem steht er derzeit mit je einem Bein in Uster und in Riga. Wenn die Eishockey-Nationalmannschaft am Samstag zum Turnierstart auf Slowenien trifft, wird er dies am TV verfolgen – und bei Schweizer Torerfolgen besonders laut jubeln.

Thomas Renggli, Goldküste24