Stefan Bischof, waren Sie ein schwieriges Kind?
Ich empfinde es schwierig, mich als Kind zu beurteilen. Aber ich weiss mit Sicherheit, dass mein Bruder ein schwierigeres Kind war, der seit Geburt auf einen Rollstuhl angewiesen ist und somit eine gesonderte Betreuung benötigt. Vor diesem Hintergrund hätte ich mich eher als ziemlich pflegeleicht bezeichnet, da ich in der Lage war, alles selbstständig zu erledigen.
Sie konnten sich erst mit rund 30 Jahren wieder an Ihre Kindheit erinnern. Warum – und wie haben Sie sie in Erinnerung?
Ich habe meine Kindheitszeit bis 15 komplett aus meinem Gedächtnis verdrängt. Dies ist eine Art Schutzfunktion des Gehirns, da die Erinnerungen dermassen schlimm für mich waren. Die Erinnerungen kamen fetzenweise wieder auf, wie meine Eltern mit mir umgegangen sind, als wäre ich ein kleines Kind und zudem massive seelische Gewalt auf mich auswirkten, mit Worten wie: «Du bist nichts wert und zu nichts fähig» oder «Geh und hänge dich auf». Meine Kindheit war voller schrecklicher Begebenheiten. Zuerst wurde ich vom Vater massiv körperlich und seelisch misshandelt. Es entwickelten sich verständlicherweise eine massive Wut gegen die väterliche Elternfigur. Daraufhin versuchte der Vater, seine Fehler wieder gutzumachen, in dem ich plötzlich als fünfjähriges Kind ein Pony im Garten hatte … Stetige Ablehnung, später auch fürsorgerische Zwangsmassnahmen in der Klinik Sonnenhof und im Schulheim Michlenberg waren ebenfalls eine sehr schlimme und prägende Zeit.
Wie haben Sie Ihre Mutter, wie Ihren Vater in Erinnerung?
Ich wurde im Alter ab vier oder fünf Jahren massiv seelisch und körperlich von meinem Vater misshandelt. Bereits als Kind hatte ich ihn sehr jähzornig und tyrannisch in Erinnerung. Für die Kinder hatte er kein grosses Interesse. Bei meiner Mutter habe ich daher stets Schutz gesucht, sie war ziemlich liebevoll. Allerdings wusste sie sich gegenüber dem Vater nicht durchzusetzen. Es gab strikte Vorgaben, was man tun sollte, und die Kindesmeinung wurde regelmässig unterdrückt. Eine selbstständige Meinung und die eigene Entwicklung waren nicht gefragt und wurden nicht bewilligt. Angefangen von bei den Hobbys bis hin zur Berufswahl, welche die Eltern mehr oder weniger vorgaben.
Warum haben Sie Ihre Eltern erst nach Ganterschwil in die Klinik Sonnenhof, dann nach Rehetobel ins Schulheim Michlenberg abgegeben?
Als ich etwa 13 war, konnte ich mich besser gegen die väterliche Tyrannei wehren, in dem ich auch mal zurückgeschlagen habe. Dies war den Eltern unerwünscht und kam ihnen nicht gelegen, weshalb sie einem Aufenthalt in der Klinik Sonnenhof zugestimmt haben. Die Unterbringung im Schulheim Michlenberg erfolgte auf das Anraten des damaligen Chefarztes der Klinik Sonnenhof. Viele der Patienten des Sonnenhofs, bei denen sie nicht mehr weiterwussten, wurden einfachheitshalber in das Schulheim Michlenberg abgegeben. Meinen Eltern war dies recht, da sie sich um ein Kind weniger kümmern mussten und sie sich gerne auf Fremdmeinungen stützen.
Wie haben Sie die Klinik Sonnenhof in Erinnerung?
Für mich war es das Schlimmste, aus dem gewohnten Umfeld plötzlich in eine psychiatrische Klinik eingewiesen zu werden. Ich hatte absolut keine seelischen Probleme erkannt, ebenfalls hatte man mir keine seelischen Probleme aufgezeigt und erklärt. Es war für mich sehr schlimm, mitansehen zu müssen, wie andere mit sich umgegangen sind, teilweise unerklärliche Ausraster hatten und sich die Arme oder Beine mit Messerklingen ritzten. Ebenfalls sah ich den Sonnenhof – hinter verschlossenen Türen – mehr als Gefängnis, eingeschlossen und abgeschieden von der Aussenwelt. Normalerweise macht man das mit Schwerverbrechern, aber dort hat man es offensichtlich auch für unbescholtene Kinder getan, die noch nie jemandem etwas zuleide getan hatten. Ich wollte einfach nur wieder da raus, zurück zu meinen alten Klassenkameraden in mein gewohntes Umfeld.
Und wie das Personal?
Gleich zu Beginn wurde mir durch eine Fachperson klargemacht, entweder würde ich meine Eltern für die Einlieferung mein Leben lang dankbar sein – oder sie für den Rest meines Lebens hassen. Leider hatte sie recht und es resultierte das letztere. Am angenehmsten war das Pflegepersonal, das sich am meisten Zeit nahm für die Kinder. Die Ärzte und Psychologen haben nach meiner Meinung den Sinn und Zweck einer ärztlichen und psychologischen Tätigkeit verfehlt. Normalerweise betreut man in einer psychiatrischen Klinik die Patienten in psychologischer Hinsicht. Dies wurde trotz eines knappen Jahres Aufenthalt nicht getan. Gespräche haben vorwiegend mit meinen Eltern und unter den Ärzten resp. Psychologen stattgefunden. Ich hatte vielleicht zwei oder drei Mal ein Gespräch mit einer psychologischen Fachperson.