Anna-Sofia Schaller
Frauen dreier Generationen erzählen, wie die Geschichte des umkämpften Kareliens angesichts des Ukrainekriegs nachhallt.
Seit meiner Kindheit habe ich meine Sommerferien in einem entlegenen Dorf in Ostfinnland verbracht. Kiihtelysvaara ist dünn besiedelt, die Bevölkerung alternd. Grund dafür: Landflucht. Spuren der Globalisierung lassen sich nur im – wohlgemerkt einzigen – Supermarkt erahnen, wo beispielsweise auch Schweizer Rösti aufzufinden ist. Ansonsten bestimmen Gemeinschaftlichkeit und Naturnähe das Dorfleben.
Geografisch liegt Kiihtelysvaara in Nordkarelien, die nächstgrösste Stadt Joensuu liegt gut 35 Kilometer entfernt. Weitere 47 Kilometer ostwärts liegt die russische Grenze.
Zum Tanken nach Russland
Die russische Grenznähe war bis anhin vor allem dadurch präsent, dass viele Dorfbewohnerinnen und -bewohner regelmässig ins russische Värtsilä fuhren: Insbesondere mit dem Ziel, dort günstigeres Benzin zu tanken. Trotz der 90 Kilometer langen Autofahrt schien sich dies zu lohnen.
Nebst der finanziell motivierten Abstecher jenseits der Grenze kam hie und da auch der territoriale Konflikt um Karelien zur Sprache: Seit der finnischen Unabhängigkeit 1917 ist Karelien heftig umkämpft gewesen. Viele Gebiete gingen an die Sowjetunion über, lange Zeit schien die Ostgrenze Finnlands mobil. In älteren Generationen hinterliess dies eine bleibende Angst vor territorialen Spannungen. Angesichts des Ukrainekriegs habe ich mich gefragt, ob die Angst vor einer russischen Annexion karelischer Gebiete derzeit eine Renaissance erlebt. Somit setzte ich mich mit Frauen dreier verschiedener Generationen zu Kaffee und Kuchen zusammen. Die Kaffeetafel lockte mit vielerlei Gebäck – Nordkarelien ist bekannt für ein überbordendes Mass an Gastfreundschaft: Traditionell sollten zum Nachmittagskaffee mindestens sieben verschiedene Sorten Gebäck aufgetischt werden.
Als erstes unterhielt ich mich mit Mari Hoffrén (58) und ihrer Tochter Titta Kortelainen (23). Mari ist in Kiihtelysvaara aufgewachsen und arbeitet als Fachangestellte Gesundheit in Joensuu. Ihre Grosseltern väterlicherseits kommen aus dem heutigen Russland. Titta ist mit ihrer Schwester in einem Haus am Strand des Hietajärvi in Kiihtelysvaara aufgewachsen. Nun ist sie für ihr Hebammenstudium in das 170 Kilometer entfernte Kuopio gezogen.
Ob die beiden das Kriegsgeschehen aktiv mitverfolgen würden? «Als der Krieg begann, habe ich die Lage intensiv verfolgt, mittlerweile deutlich weniger», so Mari. «Ich habe keinerlei Angst vor einem Angriff auf Finnland.» Dieser Einstellung schliesst sich auch Tochter Titta an: «Ich rechne nicht im Geringsten mit einem Angriff. Auch in meinem Freundeskreis ist dies gar kein Thema.»