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15.02.2023

Dieses kleine Grenzdorf hat schon viel erlebt

Liisa Juvonen (88) in ihrem Wohnzimmer im finnischen Ort Kiihtelysvaara. Bild: Anna-Sofia Schaller
Kiihtelysvaara ist ein winziges Dorf in der Region Nordkarelien im Osten Finnlands. 47 Kilometer entfernt liegt bereits die russische Grenze.

Anna-Sofia Schaller

Frauen dreier Generationen erzählen, wie die Geschichte des umkämpften Kareliens angesichts des Ukrainekriegs nachhallt.

Seit meiner Kindheit habe ich meine Sommerferien in einem entlegenen Dorf in Ostfinnland verbracht. Kiihtelysvaara ist dünn besiedelt, die Bevölkerung alternd. Grund dafür: Landflucht. Spuren der Globalisierung lassen sich nur im – wohlgemerkt einzigen – Supermarkt erahnen, wo beispielsweise auch Schweizer Rösti aufzufinden ist. Ansonsten bestimmen Gemeinschaftlichkeit und Naturnähe das Dorfleben. 

Geografisch liegt Kiihtelysvaara in Nordkarelien, die nächstgrösste Stadt Joensuu liegt gut 35 Kilometer entfernt. Weitere 47 Kilometer ostwärts liegt die russische Grenze. 

Zum Tanken nach Russland 

Die russische Grenznähe war bis anhin vor allem dadurch präsent, dass viele Dorfbewohnerinnen und -bewohner regelmässig ins russische Värtsilä fuhren: Insbesondere mit dem Ziel, dort günstigeres Benzin zu tanken. Trotz der 90 Kilometer langen Autofahrt schien sich dies zu lohnen. 

Nebst der finanziell motivierten Abstecher jenseits der Grenze kam hie und da auch der territoriale Konflikt um Karelien zur Sprache: Seit der finnischen Unabhängigkeit 1917 ist Karelien heftig umkämpft gewesen. Viele Gebiete gingen an die Sowjetunion über, lange Zeit schien die Ostgrenze Finnlands mobil. In älteren Generationen hinterliess dies eine bleibende Angst vor territorialen Spannungen. Angesichts des Ukrainekriegs habe ich mich gefragt, ob die Angst vor einer russischen Annexion karelischer Gebiete derzeit eine Renaissance erlebt. Somit setzte ich mich mit Frauen dreier verschiedener Generationen zu Kaffee und Kuchen zusammen. Die Kaffeetafel lockte mit vielerlei Gebäck – Nordkarelien ist bekannt für ein überbordendes Mass an Gastfreundschaft: Traditionell sollten zum Nachmittagskaffee mindestens sieben verschiedene Sorten Gebäck aufgetischt werden. 

Als erstes unterhielt ich mich mit Mari Hoffrén (58) und ihrer Tochter Titta Kortelainen (23). Mari ist in Kiihtelysvaara aufgewachsen und arbeitet als Fachangestellte Gesundheit in Joensuu. Ihre Grosseltern väterlicherseits kommen aus dem heutigen Russland. Titta ist mit ihrer Schwester in einem Haus am Strand des Hietajärvi in Kiihtelysvaara aufgewachsen. Nun ist sie für ihr Hebammenstudium in das 170 Kilometer entfernte Kuopio gezogen. 

Ob die beiden das Kriegsgeschehen aktiv mitverfolgen würden? «Als der Krieg begann, habe ich die Lage intensiv verfolgt, mittlerweile deutlich weniger», so Mari. «Ich habe keinerlei Angst vor einem Angriff auf Finnland.» Dieser Einstellung schliesst sich auch Tochter Titta an: «Ich rechne nicht im Geringsten mit einem Angriff. Auch in meinem Freundeskreis ist dies gar kein Thema.»

Mari Hoffrén (58) informiert sich in der Tageszeitung «Karjalainen». Bild: Anna-Sofia Schaller

Zweimal zur Flucht gezwungen

Nach meiner Unterhaltung mit Mari und Titta durfte ich mich an den nächsten – abermals grosszügig gedeckten – Kaffeetisch begeben. Dieses Mal sass mir Liisa Juvonen (88) gegenüber. Als Kind musste Liisa mit ihrer Grossfamilie aus dem alten Karelien gleich zweimal ins heutige Ostfinnland fliehen: Grund dafür waren die Unerbittlichkeiten des Winterkriegs und des Fortsetzungskriegs. In der Zwischenkriegszeit bezog die Familie ihren alten Hof wieder, nur um 1944 erneut die Flucht antreten zu müssen. Wenn Liisa von der Kriegszeit spricht, bleibt kein Zweifel: Sie scheint nur zu gut zu wissen, wovon sie spricht. «Wenn ich die Ereignisse in der Ukraine mitverfolge und mir diese vorzustellen versuche, läuft es mir kalt den Rücken herunter.» Ins Dorfleben ist die 88-jährige Bäuerin nach wie vor stark eingebunden. «Der Krieg in der Ukraine ist im Dorf ein grosses Thema. Zu einem gewissen Grad ist die Angst vor ­einem Angriff Russlands wohl in allen Dorfbewohnerinnen und -bewohnern verankert», so Liisa. Ob die Angst angesichts der aktuellen Ereignisse in der Ukraine erstarkt sei? «Beim Nachrichtenschauen kommen die Erinnerungen an den Krieg hoch. Und somit auch die Angst.»

Ob für Finnland eine Gefahr von Russland ausgeht, sei eine Generationenfrage. «Jüngere Menschen halten einen Angriff auf Finnland für unmöglich. Nicht zuletzt, weil das russische Militär einen solchen Angriff zurzeit gar nicht stemmen könnte.» Auch Liisa hält einen Angriff für unwahrscheinlich. Doch sie betont: «Persönlich schliesse ich kein Szenario aus.» Einem Nato-Beitritt sei das Dorf sehr positiv gestimmt – generationsübergreifend.

Unsere Frau in Helsinki

Anna-Sofia Schaller hat bei unserer Zeitung ein Praktikum absolviert und studiert nun während eines Auslands­semesters in Helsinki Philosophie. In einer losen Serie berichtet die schweizerisch-finnische Doppel­bürgerin in den nächsten Monaten über ihre Erlebnisse und das Leben in Helsinki.

Anna-Sofia Schaller Bild: zvg
Anna-Sofia Schaller / Goldküste24