Am 8. Mai 1945 verkündeten Kirchenglocken in Zürich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Hanni Kaiser erinnert sich genau an diesen Moment.
Die heute 95-jährige Hanni Kaiser hätte an diesem Tag eigentlich zur Schule gehen sollen. Die Handelsschule im Grossmünster blieb jedoch geschlossen. An der Eingangstür hing ein Plakat mit der Mitteilung, dass an diesem Tag der Unterricht ausfällt.
Da Züge selten verkehrten, spazierte sie mit einigen Mitschülerinnen durch die Stadt. Euphorie blieb zunächst aus. Viele hatten das Kriegsende bereits erwartet.
Am Nachmittag jedoch verwandelte sich Zürich. Laut Berichten der NZZ kam es zu spontanen Feiern. Menschen tanzten auf den Strassen. Vom Zürichberg bis zum Uetliberg herrschte Festbetrieb. Ein seltenes Bild der Erleichterung.
Alltag trotz Kriegsende
Trotz der alliierten Landung in der Normandie 1944 änderte sich für Hanni Kaiser wenig. Die Rationierung blieb bestehen und wurde erst 1948 vollständig aufgehoben. Zwei Brotscheiben pro Tag waren erlaubt.
In Männedorf, auf dem Gelände des heutigen Sekundarschulhauses, wurden Kartoffeln gepflanzt. Hungern mussten sie nicht. Die Familien teilten die verfügbaren Lebensmittel sorgfältig ein.
Die Pfadilager boten damals kleine Fluchten aus dem belasteten Alltag. Da Männedorf keine eigene Pfadi hatte, schloss sich Kaiser der Gruppe in Meilen an. Dort lernte sie, Zelte aufzubauen und Karten zu lesen.
Angst und Vorsorge
Vor dem D-Day war die Stimmung deutlich angespannter. Die Angst vor einem deutschen Einmarsch war spürbar. Die Familie Kaisers hatte – wie vorgeschrieben – Fluchtrucksäcke gepackt, um im Notfall in die Innerschweiz zu fliehen.
Die Schweizer Armee genoss zwar Vertrauen, dennoch blieb die Unsicherheit. Vom Hügelzug oberhalb Männedorf beobachtete Kaiser einst, wie Friedrichshafen bombardiert wurde. Der Feuerschein war bis dorthin sichtbar.
Auch am Zürichsee sorgten alliierten Flugzeuge für Schrecken. Bomben trafen versehentlich Schweizer Orte. Der tiefe Ton der anfliegenden Maschinen und die Sirenen prägten sich tief ein. Noch heute kann Kaiser das Geräusch kaum ertragen – es ruft alles wieder wach.
Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine lassen Parallelen aufkommen. Für Kaiser ist die Situation beängstigend. Sie sieht Ähnlichkeiten zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.
Ein Zeichen für Frieden
Die Wiederholung des Glockenläutens wurde vom Männedörfler Pfarrer Achim Kuhn initiiert. Er will damit zum Nachdenken anregen – über das Glück, in Frieden zu leben, aber auch über das Leid in Regionen wie der Ukraine oder dem Nahen Osten.
Neben dem Glockenläuten organisiert die reformierte Kirche Männedorf weitere Veranstaltungen. Am 18. Mai findet ein Gottesdienst statt, in dem Kuhn ein Gespräch mit dem Schriftsteller Adolf Muschg führt.
Erinnerungen eines Zeitzeugen
Adolf Muschg war am 8. Mai 1945 elf Jahre alt und lebte in Zollikon. Für ihn war der Tag eine grosse Erleichterung – aber auch der Anfang des Kalten Kriegs. Damals galt der General als höchste Autorität, nicht der Pfarrer.
In der Schule wurde über den Krieg kaum gesprochen. Muschg erinnert sich an einen deutschen Mitschüler und die Angst, dass dieser sie hätte verraten können. Die Furcht vor einem späten Einmarsch blieb bestehen.
Auch in der Schweiz war rechtes Gedankengut präsent. Die Nationale Front marschierte ungehindert durch Zollikon. Später wurden einige ihrer Anhänger – auch Schweizer – des Landes verwiesen. Muschgs Halbbruder protestierte dagegen öffentlich.
Eine seiner eindrücklichsten Erinnerungen ist der Aufenthalt amerikanischer Soldaten in der Schweiz. Auf dem Schulhof sah er erstmals schwarze GIs. Diese verteilten Kaugummi, der unter Schülern zur Währung wurde – Ananasgeschmack war begehrter als Pfefferminze.
Für Muschg war diese Geste mehr als nur Freundlichkeit. Sie war eine frühe Form amerikanischer Werbung – eine Erinnerung, die für ihn bis heute lebendig geblieben ist.