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15.09.2023

Ein Zeichen gegen das Vergessen setzen

Martin Dreyfus gilt als einer der wichtigsten Experten für Exil- und Emigrationsliteratur. Bild: Jeannette Gerber
Jeweils im September widmen Menschen sich am europäischen Tag der jüdischen Kultur aktuellen Fragestellungen zu Geschichte, Kultur, Religion und Gegenwart der Jüdinnen und Juden Europas.
  • Jeannette Gerber

Einen Vortrag hielt auch Martin Dreyfus, Experte für Exil- und Emigrationsliteratur. Es gibt nur noch wenige Zeitzeugen der barbarischen Naziverbrechen, umso wichtiger ist es, Erfahrungen und Erinnerungen in der Literatur zu bewahren.

Seit über 20 Jahren erinnern städtische und jüdische Institutionen in der Schweiz und in 30 europäischen Ländern am europäischen Tag der jüdischen Kultur unter dem Motto «Memory» jährlich mit vielseitigen Veranstaltungen an diese unmenschlichen Geschehnisse. Diese Zeitung war eingeladen, sich den Vortrag von Martin Dreyfus in der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich – kurz ICZ – zu diesem Thema anzuhören.

Martin Dreyfus gilt europaweit als ­einer der wichtigsten Experten für Exil- und Emigrationsliteratur. Er sprach anlässlich des 90. Jahrestages der Buchverbrennungen in Deutschland von 1933 über seine Sammlung von Büchern jüdischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Dem Verlust Ausdruck verleihen

Zu Anfang wies er darauf hin, dass sich drei Themenbereiche in der deutschsprachigen Exilliteratur vor allem erkennen liessen: zeitgeschichtliche Romane, historische Romane und Lyrik. «Dabei fallen zwei Gattungen auf, die die Schriftsteller, allen voran Dichter und Lyriker, beschäftigten und denen sie in Gedichten – weniger in Prosatexten – Ausdruck verliehen haben: dem Verlust der «heimatlichen» Sprache einerseits und der oft «verwehten» jüdischen Herkunft andererseits. Darauf werde ich im Vortrag mit zahlreichen Zitaten eingehen», erklärte er.

«Gedichte können vollständig rezitiert werden, im Gegensatz zu Romanen, woraus nur Fragmente gelesen würden. Deshalb habe ich eine grössere Anzahl von Gedichten gewählt», schloss Dreyfus. Tatsächlich eine grosse Dichte von insgesamt 29 Autorinnen und Autoren, aus deren Werken er während der nächsten Stunde vorlas. Traurige, bewegende, erklärende, symbolträchtige, philosophische, aber auch hoffnungsvolle Gedichte von Menschen, denen die Tragödie der Nazizeit widerfuhr.

Eines davon war das Gedicht «Das Volk der tausendjährigen Zuversicht» des österreichisch-US-amerikanischen Lyrikers Ernst Waldinger. Darin heisst es unter anderem: «Und Lahmheit schlug mich, Armut und Exil, und wie im Mächtespiel der Würfel fiel, fast immer stand ich, wo ich mitverlor – Doch flüstert eine Stimme mir ins Ohr: ‹Kannst du denn nicht die Zuversicht bewahren? Dein Volk hat sie seit dreimal tausend Jahren.›»

«Und Lahmheit schlug mich, Armut und Exil, und wie im Mächtespiel der Würfel fiel, fast immer stand ich, wo ich mitverlor – Doch flüstert eine Stimme mir ins Ohr: ‹Kannst du denn nicht die Zuversicht bewahren? Dein Volk hat sie seit dreimal tausend Jahren.›»
Ernst Waldinger, Auszug aus dem Gedicht «Das Volk der tausendjährigen Zuversicht»

Am 10. Mai 1933 warfen Studenten in Deutschland, gekleidet in SA- und SS-Uniformen, im Rahmen der Aktion «Wider den undeutschen Geist» Zehntausende Bücher von jüdischen Autoren ins Feuer. Wie unter anderen von Heinrich Mann, Kurt Tucholsky oder Erich Maria Remarque, die heute zu den Klassikern zählen. Es wurde eine schwarze Liste erstellt von Schriftstellern, die ihre Existenzgrundlage verloren und ins Exil getrieben wurden.

Einige baten in der Schweiz um Asyl, das sie aber nur erhielten, wenn sie politisch verfolgt waren. Verfolgte aus religiösen Gründen galten in der Schweiz nicht als politische Flüchtlinge. Selbst der Schweizerische Schriftstellerverband legte den Geflüchteten noch zusätzlich Steine in den Weg. Um zwei zu nennen, die nach den USA flohen und nach dem Krieg nach Europa zurückkehrten: Der Wiener Alfred Polgar, Schriftsteller, Übersetzer von Theaterstücken und Theaterkritiker, kam in die Schweiz und lebte in Zürich bis zu seinem Tod 1955.

Und der Berliner Walter Mehring, ein bedeutender satirischer Autor der Weimarer Republik; auch er landete schliesslich in Zürich, wo er 1981 verstarb. Beide liegen auf dem Friedhof Sihlfeld in Wiedikon begraben.

Wie er zum Büchersammeln kam

Die einen sammeln Briefmarken, Martin Dreyfus sammelt Bücher. Es muss ihm sicher schwergefallen sein, aus seiner riesigen Sammlung genau diese Gedichtbände rauszufiltern, denn er besitzt insgesamt zwischen 35 - und 40 000 Büchern. «Die genaue Anzahl weiss ich nicht», erzählte er lachend. «Schon als Jugendlicher habe ich konsequent Bücher gesammelt. Meine Eltern, meine Schwester und mein Bruder, wir alle haben immer gelesen. Nach der Schule machte ich eine dreijährige Lehre im Buchhandel, und in dieser Buchhandlung arbeitete ich noch weitere 12 Jahre. Später wechselte ich zum Verlagswesen», erzählte er weiter.

Was denn das erste Buch in seiner Sammlung gewesen sei? «Das heisst ‹Der gelbe Fleck› von einem unbekannten Autor, publiziert 1936 von ‹Editions Du Carrefour, Paris›. Es ist eine der ersten Publikationen zur Verfolgung der Juden in Deutschland, das die Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in Deutschland beschreibt. Das habe ich 1967 von meinem Taschengeld gekauft und es hat ein Vermögen gekostet – 45 Franken», erklärte Dreyfus. «Ich bin sehr früh mit zeitgeschichtlicher Literatur in Berührung gekommen, und ich habe immer mehr Bücher angeschafft, als ich lesen konnte», ergänzte Dreyfus. Heute als Selbstständiger halte er Vorträge: zum Beispiel über Erfahrungen und Erinnerungen in der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Und seit 2004 gäbe er Vorlesungen an der Volkshochschule und leite zudem einen Lesezirkel für zeitgenössische Literatur.

Es fiel auf, dass im Publikum im Saal des ICZ praktisch keine jungen Leute waren. Es scheint, als hätte die Jugend keine Ahnung davon oder kein Interesse daran, welche Dramen sich in diesen Büchern verbergen. Martin Dreyfus’ Erklärung dafür: «Man muss sich das so vorstellen: Die Zeit der Judenverfolgung ist für die jungen Menschen eine geschichtliche Episode, vergleichbar mit der Geschichte Napoleons für unsere Generation.»

Was geschieht in ferner Zukunft mit der immensen, jedoch rein privaten Büchersammlung? «Es gibt Pläne und Verhandlungen, ein grosser Teil der Sammlung als Einheit in eine schon bestehende, öffentliche Sammlung zu integrieren. Mehr kann ich noch nicht verraten.»

Jeannette Gerber/Zürich24/Goldküste24