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03.09.2023

Von Mauthausen nach St.Gallen (Teil 4)

Hans Richard von Fels mit einem geretteten Jungen Bild: Archiv
Mauthausen war das grösste Konzentrationslager Österreichs. Seine Insassen wurden am 5. Mai 1945 von den Amerikanern befreit; einige von ihnen kamen dank des Roten Kreuzes nach St.Gallen. Alt-Stadtarchivar Ernst Ziegler zeichnet ihre Geschichte nach. Letzer Teil: Hauptmann Dr. med. Hans Richard von Fels.

Der Arzt Hans Richard von Fels (1904–1983) war seit 1942 Hauptmann des Luftschutz-Bataillons St.Gallen, und er setzte sich während des Zweiten Weltkriegs ganz besonders für den Luftschutz und für die Opfer der Konzentrationslager ein. Von 1913 bis 1983 führte er Tagebücher. Am 23. April 1945 notierte er:

«Die Russen sind in Berlin; Hitler und Goebbels leiten angeblich die Kämpfe dort selbst. Die Alliierten sind am Schaffhauser Zipfel angelangt und wurden von uns stürmisch begrüsst. Täglich laufen Hunderte von Flüchtlingen über unsere Grenze. Die Alliierten entdecken die unmenschlichsten Greuel in befreiten deutschen Konzentrationslagern, wo Tausende von Menschen zu Tode gequält, lebendig verbrannt wurden oder einfach verhungerten. Die Deutschen werden zwangsweise durch diese Lager zur Besichtigung geschickt; auch die Presse und Kino nehmen alles auf.»

Über die «affreux et multiples dangers», Hunger, Gaskammer, Gräueltaten, Krankheiten, über die «centaines de misérables», die «en chemise et nu-pieds dans la boue et la pluie» aus dem Krankenlager in den Tod gingen, erfuhr Hans Richard von Fels von seinen Patienten im Notspital.

Im Privatarchiv der Familie von Fels im Stadtarchiv St.Gallen werden Photos der ehemaligen «Häftlinge» des Konzentrationslagers Mauthausen aufbewahrt. Dazu sind eine Anzahl «Krankengeschichten», eigentlich eher «Schicksalsgeschichten», vorhanden.

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«MAUTHAUSEN, SUCCURSALE DE L'ENFER»

Über die in St.Gallen Aufgenommenen, die nun keine «Häftlinge» oder «Flüchtlinge», sondern wieder Menschen waren, schrieb der Arzt in sein Tagebuch erschütternde Zeilen. (Aus Platzgründen beschränken wir uns auf die Zeit des Aufenthalts von Nelly Mousset-Vos vom 24. bis 28. April 1945 in St.Gallen.)

«25. April 1945

Morgens einige Visiten, dann 9.30 Uhr Luftschutz-Untersuchungskommission mit Oberst Sutter und Oberleutnant Hitz. Um 12 Uhr Oberst Sutter heimgefahren; rasch den Goethestrasse-Garten inspiziert. Nach dem Essen Büroarbeit; dann eine Geburt geleitet.

Darauf ins Notspital, wo wir bis jetzt drei Patientinnen bekommen haben, drei Französinnen, wovon zwei sehr schwer krank. Sie sind nur noch Haut und Bein, sind 50 Jahre alt und sehen aus wie 80; schwere Dysenterie [Durchfall, Ruhr], Bronchitis, Hungerödeme [Ödem = Geschwulst] der Beine, fallen von einem Kollaps in den andern und erzählen zwischendurch von den Greueln des deutschen. Konzentrationslagers, in dem sie waren. Sie haben fast nichts zu essen gehabt, einen Laib Brot zu acht Insassen; mussten streng arbeiten und würden mit Nagelschuhen getreten. Wer krank war, wurde vergast; es sind Hunderte neben ihnen gestorben. Gestern früh 4 Uhr hätten sie erschossen werden sollen; da kam das Rotkreuz-Auto und fuhr sie zu uns. Sie strahlen vor Freude, hier zu sein. Ich habe noch nie so ausgemergelte Menschen gesehen. Man ist sprachlos ob der Brutalität der Deutschen. Oberleutnant Rehsteiner führt das Kommando im Notspital über zwanzig Mann; Dr. Zollikofer ist Arzt.

Nelly Mousset-Vos (1906–1987; hier auf einem Bild von 1949) Bild: Archiv

26. April 1945

Morgens sehr viel Visiten bis 12.30 Uhr, Consultationen bis 17.45 Uhr. Vormittags war ich im Notspital. Es hat sehr schwere Fälle. Wir mussten den Pfarrer holen zur letzten Ölung. Nachmittags kamen noch circa 25 Schwerkranke. Wir haben alle Hände voll zu tun.

Abends 18 bis 22 Uhr war ich im Hadwigschulhaus im Dienst des Grenzsanitätspostens 7. Erst kümmerte ich mich um die Kranken im Krankenzimmer, verteilte Medikamente und Nahrungsmittel, sprach mit allen und munterte sie auf. Dann untersuchte ich 50 Mann, die soeben gereinigt wurden, alles Franzosen. Zwischendurch kamen wieder zwölf schneeweisse Rotkreuz-Camions mit den Hoheitszeichen an, die Franzosen aus dem Vernichtungslager Mauthausen bei Linz geholt hatten und nun zweieinhalb Tage unterwegs waren. Mit lautem Jubel wurden sie im Park des Hadwigschulhauses empfangen.

Es sind Arbeiter, Angestellte, Intellektuelle, Offiziere, Priester darunter, die ein bis drei Jahre in den Lagern waren und dort den langsamen Tod erwarteten. Alle hatten kurze Haare und ein Band vom Nacken zur Stirn kurz rasiert, lauter ernste, gefurchte Gesichter, weder Lachen noch Weinen ist ihnen möglich, viel verkrampfte Grimassen. Einige Ehepaare trafen sich hier nach zwei und drei Jahren wieder; es gab rührende Erkennungsszenen. Andere suchten vergeblich in der Masse. Eine Frau sucht noch immer den Mann; die andern wagen nicht, ihr zu sagen, dass er letzten Sonntag vergast wurde.

Der Ernährungszustand ist leidlich, zum Teil sehr schlecht; die Kleider sind lumpig, Habseligkeiten haben sie keine mehr. Viele haben Hungerödeme und Hautinfektionen, Furunkulose. Sehr viele haben Striemen auf Gesäss und Rücken von Peitschenhieben bis aufs Blut und nachträglichen Eiterungen. Ich sprach vor allem mit Professor Robert Fawtier, 1885, von Paris, Geschichtswissenschafter; einem Berufsoffizier, einem Pfarrer und vielen Männern und Frauen aus Holland, Belgien und Frankreich, die alle noch frisch und direkt mit ihren schrecklichen Erlebnissen hierher kamen.

In den grossen Hallen waren Tische und Bänke. Als Erstes bekommen sie zu essen: Suppe, Brot, Käse und Äpfel. Sie essen viel, haben Hunger und sind müde. Mit Genuss rauchen sie und bekommen viel zu rauchen, das tut gut. Zwei Schweizer Soldaten sangen zur Laute; alle hörten essend zu und klatschten. Aber alle sind gebeugt von jahrelangem Elend und Grauen und sagen, man werde sie ja für verrückt halten, wenn sie uns erzählten, was sie mitgemacht haben. Für kleine Vergehen, wie Einschlafen bei der Arbeit, bekamen sie 25 Schläge mit Gummiknütteln oder Peitschen; die Striemen habe ich gesehen.

Hans Richard von Fels (1904-1983) Bild: Archiv

Am Sonntag, 22. April 1945, sind noch rasch 1200 Lagerinsassen kaltgemacht geworden, zum Teil vergast; die andern mit dem Kopf an der Mauer ohnmächtig geschlagen und mit Stiefelabsatz das Genick eingestampft. Gewöhnlich wurden sie an einer Wand mit Genickschuss erledigt. Der Kommandant von Mauthausen war ein Sadist mit eisblauen Augen, der sich rufen liess, wenn irgendwo eine Exekution war. Alle Bonzen sind Sadisten, Verbrecher, Pathologen. Die meisten haben Knaben bei sich, sind fast alle homosexuell. Ein Dutzend sich krank meldende Knaben und Frauen, darunter Kinder von fünf bis zehn Jahren, wurden nackt ausgezogen, in den Hof getrieben und von 6 bis 22 Uhr nachts stehen gelassen, dann mit eiskaltem Wasserstrahl begossen. Wer nicht tot umfiel, wurde mit Eisenknüppeln erschlagen, auch die nach der Mutter schreienden Kinder. Tote wurden auf die Strasse geworfen, dass die Schädel aufschlugen, auf Camions geladen. Die Kranken wurden aufs freie Feld gelegt; abends mit kaltem Wasser begossen; morgens waren sie tot. Andere wurden in Gruben mit Benzin begossen und lebendig verbrannt. In Auschwitz wurden sieben Millionen Menschen vergast und verbrannt.

Die Frauen arbeiteten in Strassen oder Feldern wie Männer, wurden von Polinnen und Russinnen getreten und geschlagen. Zum Appell standen sie oft stundenlang im Schnee ohne Essen. Exekutionen von Dutzenden wurden vor ihren Augen vorgenommen. Zu essen bekamen sie für 24 Stunden ein halbes Stück Brot, das oft schimmlig war und eine Tasse Rübenbrühe. Man liess sie systematisch verhungern. Der Offizier hat ein Stück Lagerbrot mitgebracht und mir gegeben.

Und alle, alle erzählen dasselbe; man kann fragen, wen man will. Der Verstand steht einem still beim Zuhören, und eine wilde Wut kocht in uns gegen dieses Volk. Viele reden von Vergeltung. Nun sind sie glücklich bei uns und reisen bald heim. Ich ging wie gebrochen heim, angeekelt und dem Weinen nahe. Darum habe ich dies geschrieben, weil es heraus musste, und bin um ein Uhr ins Bett.»

Es ist genug!

Hans Richard von Feld arbeitete weiter im Notspital und im Hadwigschulhaus. Als er mich viele Jahre später wieder einmal im Stadtarchiv besuchte, sprachen wir miteinander über diese seine Erlebnisse. Ich, ein vom Glück verwöhnter Zeitgenosse (geboren 1938), musste mich nie in schweren Zeiten bewähren. Ich fragte den Arzt, was geschehen müsse, bis Menschen irgend eines Volkes soweit kommen, dass sie anderen Menschen derart grosses Leid antun können. Er wusste keine Antwort.

Bei der Registrierung Bild: Archiv

«DIES IRAE»

Beim Lesen dieser Tagebucheinträge erinnere ich mich an Wolfgang Hildesheimers (1916–1991) «Gedanken über Leben und Tod» zu Mozarts «Requiem» mit dem Titel «Herr, gib ihnen die ewige Ruhe nicht». Da sagte er: «Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, er ist mißraten.» Wir wissen, wen Hildesheimer damit meinte, und wir wissen, wen wir damit meinen. – Aber es gibt auch die anderen; von ihnen schrieb im Mai 1945 Hans Richard von Fels: «Unter dem Kommando des Bataillonsarztes arbeitet der Leiter des Luftschutz-Notspitals; ihm zur Seite stehen die zugeteilten Aerzte, die Oberschwester, die Saalschwestern und die Sanitätssoldaten. Und frägt man, wie der Dienst sei, so sagen alle: es ist der schönste Aktiv-Dienst, den wir je tun mußten; jetzt wissen wir, wozu wir das alles gelernt und geübt haben während des ganzen Krieges. Jetzt dürfen wir wahrhaft helfen im Sinne des Schweizer Kreuzes als Soldaten und im Sinne des Roten Kreuzes als Aerzte, Samariter und Samariterinnen.»

NACHWORT

Im Zusammenhang mit der «schweizerischen Flüchtlingspolitik» wurde das Thema «Transit statt Asyl» von «Experten» mehrfach ausführlich behandelt. Das Thema dieses Aufsatzes war es nicht. – Wir wollen aber doch einen 1938 geborenen Zeitzeugen zitieren, der 1945 mit den Eltern «erwartungsfroh zum ersten Schultag ins Hadwigschulhaus» schritt.

Rudolf Arnold Natsch schrieb 2009 in seinen Erinnerungen «Mündlich überliefert», der Lehrer habe die Erstklässler bald auf unbestimmte Zeit nach Hause entlassen, «weil die Schulräumlichkeiten für die Aufnahme in die Schweiz geflüchteter KZ-Häftlinge gebraucht» wurden. «Die Stadt bot den Aufgenommenen Liegestroh, Entlausung, soweit nötig saubere Kleider, medizinische Versorgung und Verpflegung – und rühmte sich ihres humanitären Engagements.

Das Verlassen des Schulhofes war verboten. Gutmeinende Einwohnerinnen und Einwohner steckten den Menschen durchs Gitter Esswaren, Kinderspielzeug und für die Frauen allerhand Klunker zu. Die Presse hatte berichtet, dass die total Ausgepowerten ein unbändiges Verlangen nach irgendeinem Schmuck hätten. Aufseiten der Behörden stand von Anfang an fest, dass die Fremden, die man nicht gerufen hatte, aber die das Schicksal in die Schweiz gespült hatte, so rasch wie möglich weiterziehen sollten.»

Nelly Mousset-Vos schrieb am 25. April 1945: «Je suis terriblement impatiente» und am 28. April: «Il parait que nous serons ce soir en France, l'impatience me gagne.» Am 3. Mai notierte von Fels, als die «Transportfähigen» in einem «Lazarettzug» abreisen konnten: «Einenteils drängen sie nach Hause, andernteils tut es ihnen leid, von hier weg zu müssen, denn es hat ihnen sehr gut gefallen. Ich habe jeder Einzelnen die Hand gegeben und gute Reise gewünscht.»

Im Notspital im Waisenhaus Bild: Archiv

BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE

  • Journal de captivité de Nelly Mousset-Vos, Archives Nelly Mousset-Vos, (par Sylvie Bianchi, à paraître 2023).
  • Das Konzentrationslager Mauthausen, 1938–1945, Katalog zur Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2013.
  • MATT, Alphons: Einer aus dem Dunkel, Die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen durch den Bankbeamten H., Zürich 1988.
  • Hans Richard von Fels, Auszüge aus seinen Tagebüchern, 1939 bis 1945, ausgewählt und hg. von Ernst ZIEGLER, St.Gallen 1998. (Betreffend «Es ist genug!» siehe Seite 197–239.)
  • ZIEGLER, Ernst: Als der Krieg zu Ende war … Zur Geschichte der Stadt St.Gallen von 1935 bis 1945, St.Gallen 1995.
  • ZIEGLER, Ernst: Jüdische Flüchtlinge in St.Gallen – zwei Beispiele, in: Rorschacher Neujahrsblatt 1998, 88. Jg., S. 3-30.
  • LE GUÉNIC, René : MORBIHAN, Mémorial de la Résistance, Bannalec 1998.
  • KRUMMENACHER-SCHÖLL, Jörg: Flüchtiges Glück, Die Flüchtlinge im Grenzkanton St.Gallen zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2005.

DANK

Ich danke Anic Lehmann und Maria Hufenus für die Kontrolle meiner Übersetzung aus dem Französischen, Stephan Ziegler für die Erfassung meines maschinengeschriebenen Manuskripts sowie Stadtarchivar Thomas Ryser für vielfältige Unterstützung.

Ein besonderer Dank geht nach Frankreich zu Sylvie Bianchi in Maule und an die Mairie von Locminé für die Überlassung wichtiger Unterlagen.

Ernst Ziegler