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Kanton
10.06.2023

Alle müssen Digitalisierung können

Die Universität Zürich begegnet der Komplexität digitaler Systeme auf offensive Weise. Bild: Lisa Maire
Die Digitalisierung schreitet in fast allen Bereichen unseres Lebens fort. Dass die Forschung auf diese Tatsache reagiert, verwundert kaum.
  • Tobias Hoffmann

Aber dass die Universität und der Kanton Zürich in diesem Bereich eine ziemlich einzigartige Initiative am Laufen haben, ist noch nicht allzu bekannt.

Im Januar ging die Meldung ein, die Universität Zürich (UZH) schaffe sieben neue Digital-Professuren. Diese Expansion ist, so war zu erfahren, die dritte Phase einer 2016 gestarteten, gross angelegten Forschungsinitiative der UZH namens Digital Society Initiative (DSI). Ein Ziel ist es, 36 Professuren zu Fragestellungen der digitalen Transformation zu schaffen. Seit 2020 mischt auch noch, so stand weiter, die Digitalisierungsinitiative der Zürcher Hochschulen (DIZH) mit, an der sämtliche kantonalen Hochschulen (neben der Uni die ZHAW, die ZHdK und die PHZH) beteiligt sind. Wenn Ihnen nun etwas schwindlig wird vor lauter Digitaldies und Digitaldas – es ging mir gleich.

Da es sich um eine grosse Sache zu handeln scheint, sollte man aber etwas mehr darüber wissen. Deshalb auf zu Markus Christen, dem Geschäftsleiter der DSI, der als Forscher Spezialist für digitale Ethik und Cybersicherheit ist. In den Räumlichkeiten der DSI in einem Unigebäude an der Rämistrasse 69 klärt er mich über die Zusammenhänge auf. Doch die feinen Verästelungen hochschulpolitischer Strukturen und Vorgänge lassen wir hier beiseite und beschränken uns aufs Wesentliche.

Von der Chirurgie bis zur Theologie

Die DSI ist, so Christen, eine «spezielle Einheit» der Universität. Mitglied können aber auch Forschende von ausserhalb werden. Zurzeit zählt die DSI etwas über 1000 Mitglieder. Die DIZH hingegen ist eine einfache Gesellschaft der vier kantonalen Zürcher Hochschulen, die gemäss Kantonsratsbeschluss vom 20. Januar 2020 zusätzliche Mittel von 108 Millionen Franken verteilt. Die DIZH ist ein «Forschungscluster», bei dem jede Hochschule einen vorher definierten Anteil erhält. Ein wesentliches Ziel ist, dass die Hochschulen enger zusammenarbeiten.

Aber was hat es nun mit der digitalen Transformation auf sich? Christen definiert sie so: «Man bildet viele Lebensprozesse auf ein digitales Informationssystem ab. Das bedeutet, dass beinahe alles, was man macht, aufgezeichnet werden kann.» Das heisst nichts anderes, als dass sich sozusagen für alle Bereiche unseres Lebens Fragen der digitalen Informationsverarbeitung ergeben. So ist denn auch die Breite der Themen, die im Rahmen der DSI behandelt werden, be­eindruckend. Jede Fakultät der UZH ist eingebunden. Es gibt Professuren zur ­interaktiven visuellen Datenanalyse, zur ­computergestützten Chirurgie, zum maschinellen Lernen, zur Computerlinguistik, zu digitalisierten Kommunikationsräumen, zum Thema Digitalisierung und Religion bzw. Theologie, zur Arbeitsgeografie, zum Mobilitäts- und digitalen Innovationsmanagement sowie anderem mehr.

Keine hierarchischen Entscheide

Christen erklärt, dass bei der DSI ein Bottom-­up-Prinzip praktiziert werde, eine Planung, die nicht von Entscheiden «von oben», also hierarchisch, geprägt ist: Die gut 1000 beteiligten Forscher bilden Communitys, die für von ihnen ausgearbeitete Projekte um eine Finanzierung anfragen können. Dieses Jahr hat sich zum Beispiel eine Community gebildet, die zur Nachhaltigkeit bei der Digitalisierung forschen möchte. Beteiligt sind Leute verschiedener Disziplinen und verschiedener Stufen – vom Doktoranden bis zum Professor.

Ausserdem sei Bildung ein wichtiges Thema, ergänzt Christen. Früher sei Latein die Wissenschaftssprache gewesen, die alle hätten können müssen. Heute könnte man sagen: Alle müssen ein bisschen Digitalisierung können. Im Rahmen der DSI wird erprobt, wie den Studierenden diese Basis am besten zu vermitteln ist, und es werden dafür Programme entwickelt. Es ist Teil des Auftrags der DSI-Professuren, die Studierenden im Rahmen dieser Programme zu unterrichten.

Aber bei diesem etwas abstrakten Überblick soll es nicht bleiben. Im Folgenden werden eine Forscherin und zwei Forscher mit aktuellen oder kürzlich abgeschlossenen Projekten vorgestellt. Markus Christen hat die drei vorgeschlagen und dabei ein gutes Gespür für Themen von breitem öffentlichem Interesse gezeigt. Und so erfahren wir einiges über Hassrede im Netz, mit einseitigen Daten gefütterte künstliche Intelligenz und die Chancen und Risiken von Fitnesstrackern.

Karsten Donnay
Assistenzprofessor für Political Behaviour and Digital Media

«In einem unserer Forschungsvorhaben haben wir das Projekt ‹Stop Hate Speech› unterstützt, das von Alliance F, dem Dachverband der schweizerischen Frauenorganisationen, gestartet worden war. Der Verband ist in einer frühen Phase des Projekts auf uns zugekommen, weil er weitere Expertise im technischen Bereich brauchte. Wir haben an zwei Stellen angesetzt: Erstens haben wir geholfen, den Hass im Netz überhaupt zu finden, mit modernsten Methoden aus dem maschinellen Lernen; zweitens haben wir herauszufinden versucht, was eine gute Strategie ist, um Hass zu begegnen. 

Bisher gab es zahlreiche Vorschläge für mögliche Reaktionen auf Hassposts von Rechtswissenschaftlern, Soziologen und Psychologen, aber sehr wenige systematische Tests, was wirklich funktioniert. Wir haben also begonnen, systematisch zu testen, welche Art von Antworten Erfolg haben, das heisst, die Hass Postenden dazu bewegen, ihren Post zu reflektieren und ihn vielleicht sogar zu löschen.

Die erste Untersuchung galt Twitter-­Usern in den USA, die xenophobe (fremdenfeindliche) Inhalte posteten. In der 2021 erschienenen Studie zeigen wir, dass Empathie für die vom Post betroffene Person am ehesten dazu führt, dass Leute ihren Hasskommentar löschen und auch später selber weniger Hass posten. Dann haben wir die Studie bei Schweizer Twitter-­Usern wiederholt, aber alle Formen von Hass einbezogen. Deshalb waren die Resultate wohl weniger eindeutig. Gezeigt hat sich, dass hier Empathie nicht so gut funktioniert, besser jedoch die Androhung von Konsequenzen nach dem Motto ‹Das sehen ja auch andere Leute›.

Man muss festhalten, dass nur ein paar Prozent der User den Grossteil des Hasses produzieren. Diese Leute machen das so häufig, dass man annehmen muss, sie würden es sehr bewusst tun, im Sinne eines ‹Hobbys› oder aus beruflichen Gründen. Bei diesen hat die Gegenrede ihre Grenzen. Sie funktioniert nur bei Leuten, die bereit sind, ihr Verhalten zu reflektieren. Da das Netz deutlich unterreguliert ist, gibt es einen sehr grossen Graubereich, in dem viel Hässliches passiert, das für die Betroffenen schlimm ist, ohne dass den Verursachern etwas passiert. Schlimmstenfalls wird vielleicht ihr Account gesperrt. 

Der wohl wichtigste Erfolg des Projekts ist es, dass überhaupt breit über das Thema Hassrede diskutiert wird. Aber nicht dank der Arbeit von uns Wissenschaftlern, sondern von Alliance F.»

Der Politologe Karsten Donnay (39), seit April 2020 DSI-Professor, arbeitete im geschilderten Projekt zusammen mit Alliance F und Wissenschaftlern der ETH und der UZH. Bild: Screenshot

Kerstin Noëlle Vokinger
Professorin mit Schwerpunkt Regulatory Sciences

«Früher war das klassische Medizinprodukt ein Spitalbett; das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass man zu Boden fiel, weil das Bett auseinanderkrachte. Heute gibt es viele Produkte, die eine KI-Komponente haben, Geräte zum Beispiel, um Prostatakarzinome zu dia­gnostizieren oder bei den Frauen Brustkrebs. Der Gebrauch der sehr komplexen Geräte kann gravierende Folgen haben, zum Beispiel wenn eine Diagnose verpasst wird. Zurzeit ist die Regelung noch so, dass der Arzt die volle Verantwortung trägt, die Maschine wird nur als Hilfe beigezogen. Aber wie viel wollen wir in Zukunft der KI delegieren? 

In unserer Forschungsgruppe untersuchen wir unter anderem, was für neue Technologien in der Medizin entwickelt werden. Wenn Geräte mit Daten trainiert werden, die nicht unserer Gesellschaft entsprechen, können die Ergebnisse für gewisse Patienten unzutreffend sein. Ein Beispiel: Wir wissen, dass bei Männern mit Herzinfarkt der Schmerz regelmässig in die Arme ausstrahlt, Frauen bekommen aber auch Bauchweh. Wenn nun die Geräte nicht darauf trainiert sind, dass Bauchweh einen Herzinfarkt anzeigen kann, sind Fehldiagnosen möglich. Dasselbe gilt zum Beispiel auch für mit chinesischen Daten trainierte Geräte, die in Europa zur Anwendung kommen. 

Deshalb untersuchen wir, aus welchen Ländern die Produkte auf dem Markt kommen und mit welchen Daten sie trainiert wurden. So ermitteln wir, wie die Produkte zugelassen werden sollen. Zum anderen schauen wir, welche KI-Software sich in der Entwicklungs­pipeline befindet. Was auf den Markt kommt, ist ja nur die Spitze des Eisbergs.

Unser Team besteht aus circa zehn Leuten: Mediziner, Juristen, Informatiker, Ökonomen, Statistiker, Gesundheitswissenschaftler. Meine Forschungsergebnisse dienen Behörden und internationalen Organisationen wie der UNO. Die Zulassung von Medizinprodukten ist ein politisches Thema: Soll sich die Schweiz mehr nach den USA richten oder mehr nach der EU? Das Ziel sind auf jeden Fall Produkte, die sicher sind und die ihren Zweck erfüllen.

Unsere Ergebnisse präsentieren wir unter anderem der Wissenschaft und Behörden im Inland und Ausland wie der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA). Letztere hat Ergebnisse unserer Studien auf ihrer Website publiziert. Unsere Forschung soll ermöglichen, dass wir die Chancen und Gefahren neuer Technologien erkennen, die Vorschriften entsprechend angepasst werden und diese neuen Technologien für die Gesellschaft zugänglich werden.»

Kerstin Noëlle Vokinger (35) forscht an der Schnittstelle von Recht, Medizin und Technologie. Letztes Jahr wurde sie mit dem hoch dotierten Wissenschaftspreis Latsis ausgezeichnet. Bild: Screenshot

Viktor von Wyl
Assistenzprofessor für Digital and Mobile Health

«Wir arbeiten in unseren Studien mit Daten von Geräten, die die Leute sowieso schon brauchen, wie zum Beispiel Smartphones oder Fitnessarmbänder, aber auch mit ‹smart rings›, die man am Finger trägt. Diese können den Schlaf, die Herzrate oder auch die Häufigkeit und Intensität der körperlichen Bewegung messen. Das Ziel ist, herauszufinden, wie man gesundes Verhalten fördern kann.

Unsere Zielgruppe sind chronisch Kranke, namentlich Menschen mit multi­pler Sklerose. Das hat damit zu tun, dass ich wissenschaftlicher Leiter des Schweizer MS-Registers bin. Man weiss, dass körperliche Aktivität den MS-Betroffenen guttut. Sie kann bewirken, dass bestimmte Körperfunktionen länger erhalten bleiben und dass Krankheitsverlauf und Psyche positiv beeinflusst werden. Die Leute haben zwar eine Krankheit, die sie nicht loswerden können, doch sollen sie motiviert und ermächtigt werden, ihr Wohlbefinden selbst zu verbessern.

Die Geräte haben oft einen günstigen Effekt. Manche Leute gehen extra abends noch einmal hinaus, um auf die empfohlene Schrittzahl zu kommen. Manche jedoch wollen das Gerät nach einer Weile nicht mehr tragen, da es sie ständig daran erinnert, dass sie ihre Ziele nicht erreichen. Die Ziele müssen deshalb individuell und genau angepasst sein. 

Wichtig ist, dass die Leute in der Versorgung – zum Beispiel Physiotherapeuten – bereit sind, die Daten zu nutzen. In einem Teilprojekt haben wir interaktive Tools entwickelt, mit denen Versorger nach Mustern im Zusammenspiel von Gesundheitsfaktoren suchen können. Wir konnten belegen, dass die Tageszeit eine enorme Rolle spielt. Leute, die von Fatigue (bleierner Müdigkeit) betroffen sind, haben oft am Morgen mehr Energie, am Nachmittag aber brechen sie total zusammen. Und sie zahlen manchmal einen hohen Preis dafür, wenn sie an einem Tag zu aktiv gewesen sind, indem der Energielevel stark absackt. 

Von der Industrie wollen wir unabhängig sein. Viele Leute sind in Bezug auf die Verwendung ihrer Daten skeptisch. Wir sind rechtlich verpflichtet, die Privatsphäre der einzelnen Personen zu schützen. Wir benützen zwar kommerzielle Geräte, bei denen man einen Account erstellen muss, und wissen, dass gewisse Daten bei den Herstellern landen, aber wir stellen sicher, dass die Hersteller die Daten keiner Person zuordnen können. Zum Beispiel setzen wir Konten mit neutralen E-Mail-Adressen auf und verwenden die Geräte wieder.»

Bild: Screenshot
Tobias Hoffmann / Goldküste24