So einen grossen Andrang gab es bei einem Verhandlungstermin schon lange nicht mehr. Der Gerichtssaal im Klosterhof 1 ist bis auf wenige Plätze komplett besetzt. Am Dienstag muss sich hier ein Mann verantworten, der normalerweise andere auf der Anklagebank verteidigt. Nun sitzt der renommierte St.Galler Anwalt P.G.* selbst auf dem heissen Stuhl. Ihm werden mehrfache Ausnützung der Notlage und Tierquälerei vorgeworfen.
Die Staatsanwaltschaft verlangte eine bedingte Haftstrafe von 14 Monaten sowie eine bedingte Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 420 Franken.
Die Privatklägerin, die sich in der ersten Reihe der Zuschauerplätze befindet, ist ihm keine Unbekannte. Die beiden kennen sich seit 2011 und seien «gute Nachbarn» gewesen. Im Sommer 2020 bot ihr der Angeklagte P.G. eine Stelle in seiner Kanzlei als Ferienvertretung an – dies, obwohl die Frau keinerlei Erfahrungen in diesem Bereich hatte. Er habe der Frau den Wiedereinstieg in die Berufswelt vereinfachen wollen.
Mehrere Wutausbrüche
Nach Beginn des Arbeitsverhältnisses soll die Frau schnell festgestellt haben, dass das Arbeitsklima extrem wechselhaft war. Wenn ihr Chef gute Laune hatte, sei er hilfsbereit und offen und das Arbeitsklima entsprechend gut gewesen. Wenn er jedoch schlechte Laune hatte, sei er cholerisch und ungeduldig und das Arbeitsklima entsprechend schlecht.
Seine cholerischen Ausbrüche, welche die Frau mitbekam, hätten vor den nachstehend geschilderten Vorfällen begonnen und zeigten sich beispielsweise darin, dass er Personen am Telefon derart zusammenstauchte, dass die Grenze von Genervtsein überschritten war, heisst es in der zehnseitigen Anklageschrift.
Auch wenn sie Fehler gemacht habe, soll er sie heftig angeschrien haben, sodass sein ganzer Körper gebebt habe. Ebenfalls soll er Akten vom Tisch hinuntergeschmissen haben. Um künftig solchen Ausrastern zu entgehen, entschied sich die Klägerin regelmässig dazu, das Haus zu verlassen und eine Runde zu laufen. Dabei soll er ihr «aber ich bin dein Chef, ich bin dein Chef, ich bin dein Chef» nachgeschrien haben.
«Wegen Stress entblösst»
Beim ersten Entblössen sei der Beschuldigte «im Stress gewesen». Er habe das die Frau gefragt, ob es in Ordnung wäre, wenn er seine Kleider ausziehe; später sei er nur mit Socken bekleidet am Sekretariat vorbeigelaufen.
Auch bei einer Besprechung soll er das Opfer gefragt haben, ob es okay sei, wenn er sich ausziehe. Dabei habe es sich laut der Anklageschrift allerdings nur um eine rhetorische Frage gehandelt. Weiter heisst es in der Anklageschrift: «In der Folge zog sich der Anwalt bis auf die Socken aus und führte, nun besser gelaunt, die Sitzung.» Er soll während dieser auch eine Zeit lang an seinem Glied herumgespielt und Masturbationsbewegungen gemacht haben. Es sei immer wieder zu solchen Sitzungen gekommen.
In einem Fall soll sogar der Hund des Beschuldigten an seinem Geschlechtsteil geschleckt haben; dies sei ihm aber peinlich gewesen. An einem anderen Tag soll er im Büro onaniert haben. Dies entnahm die Frau aufgrund von Stöhngeräuschen.
Ausnützen der Notlage
Bei den Vorfällen soll sich die Frau jeweils weggedreht haben, nachdem sich P.G. nackt ausgezogen habe und vermied Blickkontakt, was er laut Anklageschrift wahrnahm. Die Privatklägerin war mit den oben geschilderten Verhaltensweisen nicht einverstanden, was er wüsste oder aufgrund ihrer Reaktion auf seine Nacktheit hätte wissen müssen.
Gemäss Staatsanwaltschaft befand sich die Frau in einer Notlage und war auf den Job angewiesen. Dies hätte der Angeklagte ausgenutzt. Das Arbeitsverhältnis sei stark hierarchisch geprägt gewesen, ein lockerer Umgang bestand nicht und die Frau sei der aufbrausenden, lauten, cholerischen und ungeduldigen Art des Mannes sowie seinem dominanten Wesen ausgeliefert gewesen.
Aufgrund des beschriebenen Arbeitsverhältnisses sei sie in einer Zwangslage gewesen und wagte sich deshalb und aufgrund ihrer damit einhergehenden Unterlegenheit nicht, zu widersprechen, obschon sie mit den sexuellen Handlungen von P.G. nicht einverstanden war. Sie habe im Gegenteil die Handlungen und deren Anblick erdulden müssen.
«Ich war von ihr fasziniert»
Die happigen Vorwürfe streitet P.G. am Dienstag vor Gericht ab. Er sagt, dass die beiden eine «Fast-Beziehung» über wenige Wochen vor dem Anstellungsverhältnis gehabt hätten. So seien sie im Sommer 2020 mehrmals gemeinsam mit ihren Hunden spazieren gegangen und hätten über Gott und die Welt geredet.
«Etwa zwei Prozent der Unterhaltungen drehten sich um Nudismus und Nacktwandern. Sie erzählte mir, dass sie mal Aktmodell für einen russischen Künstler war», sagt der Angeklagte vor Gericht. Die beiden seien nach einem Spaziergang mit den Hunden in die Sonne gelegen und hätten sich ausgezogen und «Sonne getankt», so der St.Galler in seinen Ausführungen.
Auch soll die Frau P.G. bereits in seiner Wohnung nackt gesehen haben. Das begründe laut dem Angeklagten auch, weshalb die Frau solche genauen Angaben zu seinem nackten Körper machen konnte. Er habe sich in die Frau, die ihn faszinierte, verliebt.
Alles erfunden?
Der Flirt der beiden habe sich aber bereits vor dem Anstellungsverhältnis mit der Zeit versandet, so P.G.. Zu Sex oder sexuellen Handlungen sei es zwischen den beiden nie gekommen. Sowohl der Angeklagte als auch die Klägerin sind verheiratet.
Laut der Staatsanwaltschaft gab es diese «Fast-Beziehung» aber nicht und handle sich um eine neue Schutzbehauptung des Angeklagten. Diese Geschichte sei gemäss dem Verteidiger der Privatklägerin «an den Haaren herbeigezogen» und wurde davor nie erwähnt. «Ich wurde nie dazu befragt», so der Mann zu seiner Verteidigung.
Die Staatsanwältin sagte ausserdem, dass es bereits in der Vergangenheit Exhibitionismus-Anschuldigungen gegenüber P.G. gab. Es kam nie zu einer Verurteilung, sondern zu aussergerichtlichen Einigungen.
Für Mittagsschlaf ausgezogen
P.G. sagt, dass die erwähnten «Nacktsitzungen» nicht stattgefunden hätten. «Ich wüsste gar nicht, was es mit ihr zu besprechen gab. Meine Termine sieht sie ja im Kalender, dafür braucht es keine Sitzungen.» Ausserdem sei das Büro zu jederzeit für mehrere Personen zugänglich gewesen. «In meinem Büro gibt es keine Vorhänge und wenn ich mich nackt gemacht hätte, dann hätte ich das genau so gut auf dem Marktplatz tun können», so der Anwalt.
Er gab allerdings zu, dass er sich gelegentlich in einem Büro auszog, um einen Mittagsschlaf zu halten. Dies hätte er bereits vor der Anstellung der Frau getan. Das Nacktsein verschaffe ihm ein Gefühl der Freiheit und sei ein Kontrast zur stressigen Arbeitswelt.
Im Gericht ging es um die Frage, wieso die Privatklägerin denn solche Behauptungen aufstellen sollte. «Das ist eine schwierige Frage, die ich mir seit über einem Jahr stelle. Wir hatten ein gutes Verhältnis und sie ist eine coole, offene und flippige Person, aber es war ein Fehler sie einzustellen. Man hat gemerkt, dass der Job ein grosser Kontrast zu ihrem eigentlichen Leben war und sie mit dem Stress nicht klarkam. Ich habe mir zu wenig Zeit für sie genommen und ich wollte sie nie absichtlich verletzen. Falls ich dies doch gemacht habe, dann tut mir das unendlich leid. Irgendetwas hat sie so weit getrieben, dass wir heute hier sind», sagt der Beschuldigte. Dass es ihr um Geld gehe, glaube er nicht.
Der Anwalt der Klägerin fordert einen Schadensersatz von 2'100 und eine Genugtuung von 4'000 Franken.
Anwältin hält zweistündigen Vortrag
«Es gab kein nacktes «durch die Kanzlei Spazieren», kein Stöhnen im Büro sowie kein Abschlecken der Genitalien meines Klienten durch den Hund. Sämtliche meinem Klienten unterbreiteten Vorwürfe entstehen dadurch, dass die Frau ihre private und im Sommer gelebte Beziehung zu P.G. in die gegenseitig geschäftlich gelebte Beziehung überträgt. Das Motiv, welches hinter diesem Vorgehen steckt, kennt einzig die Klägerin», so die Anwältin des Angeklagten während ihres zweistündigen Vortrags.
Zu Masturbationsbewegungen sei es laut der Verteidigerin zudem nie gekommen, sondern sei von der Staatsanwaltschaft der Privatklägerin in den Mund gelegt worden. Sie habe lediglich gesagt, dass er mit seinem Penis wie ein kleiner Junge gespielt habe. «Ein kleiner Junge handelt nicht sexuell motiviert», führt die Anwältin des Angeklagten weiter aus.
Anders sieht das die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung der Frau. «Er versucht, sich heute als Opfer darzustellen und tischt uns hier eine fantasierte Geschichte auf, die vorher nie zur Sprache kam. Der Beschuldigte hat diese Frau nie nackt gesehen und versucht sich mit verschiedenen Versionen zu verteidigen. Die Klägerin habe kein Interesse, Unwahrheiten zu verbreiten», so ihr Anwalt.
Gericht spricht Blüttler frei
Um 17 Uhr wurde das Urteil durch das Kreisgericht ausgesprochen: Der Angeklagte wird in allen Punkten mangels Tatbestandserfüllung freigesprochen. Die Genugtuungsforderung wird abgewiesen und der Schadensersatzantrag wird auf den Zivilweg verwiesen. Die Verfahrenskosten von rund 9'000 Franken übernimmt der Staat. Der Anwalt wird für die Kosten seiner Verteidigung von rund 50'500 Franken entschädigt.
Der Richter erklärt, dass der Angeklagte die Klägerin nicht aufforderte, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden. «Nacktheit ist per se keine Straftat. Es muss etwas dazukommen. Ihm wird vorgeworfen, Masturbationsbewegungen durchgeführt zu haben. Für die Tatbestände der sexuellen Belästigung und des Exhibitionismus wurde nicht rechtzeitig ein Strafantrag gestellt. Die dem Beschuldigten vorgeworfenen Handlungen erreichen nach Auffassung des Gerichts nicht die von der Lehre geforderte Erheblichkeit, wodurch von einer sexuellen Handlung auszugehen wäre», so der Richter.
*Name der Redaktion bekannt und geändert