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Gesundheit
04.04.2023

Wo sind die Therapieplätze?

Der Mangel an Psychotherapieplätzen im Kanton Schaffhausen stellt eine grosse Belastung für die Betroffenen sowie die Therapeutinnen und Therapeuten dar. Bild: Lara Gansser, Schaffhausen24
Immer mehr Menschen wollen eine Psychotherapie in Anspruch nehmen. Doch die Nachfrage übersteigt das Angebot massiv. Die Situation ist für die Bietenden wie auch für die Suchenden eine grosse Belastung.

Depressionen, Angst oder Traumata – die Liste, weshalb Menschen eine Psychotherapie in Anspruch nehmen, ist lang. Und die Liste, wie viele Menschen sich eine Therapie wünschen und keinen Platz finden, ist noch viel länger. Wie hoch die Dringlichkeit im Kanton Schaffhausen ist, zeigte sich bei den Recherchen des «Bocks» schnell. Zwei Betroffene, eine Psychologin, ein Psychiater und der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Leiter Psychiatrische Dienste der Spitäler Schaffhausen sprechen darüber, wie der Mangel an Therapieplätzen sie belastet.

«Ich wurde immer wieder abgewiesen»

J.* ist 44 Jahre alt. Das erste Mal in Berührung mit der Thematik Psychotherapie kam sie vor vier Jahren. Ein damals erlittenes Burn-out löste bei ihr eine mittelschwere Depression aus. «Ich wurde notfallmässig beim Kriseninterventionszentrum der Breitenau vorstellig», berichtet sie. «Da ich auf Medikamente verzichten wollte, kam eine stationäre Behandlung für mich nicht in Frage.» Drei Monate lang musste sie warten, bevor sie in die Tagesklinik der Spitäler Schaffhausen aufgenommen wurde. «Mein Glück war, dass mein ehemaliger Arbeitgeber ein Employee Assistance Program anbot, wo ich wöchentlich telefonisch betreut wurde», so J. Bei ihrem späteren viereinhalb-monatigen Klinikaufenthalt startete sie ihre erste Psychotherapie. «Nach dem Klinikaustritt brauchte es viel, dass ich bei meiner Therapeutin bleiben durfte.» Daraus resultierte eine sehr unregelmässige Therapie, wozu eine sehr hohe Fluktuationsrate kam. «Niemand wechselt gerne den Psychotherapeuten», bedauert sie. Den letzten Such-Anlauf startete sie Ende 2022. Mindestens acht bis zehn Telefonate hatte sie getätigt. «Bestenfalls kam ich auf die Warteliste, meist wurde ich direkt vertröstet», berichtet J. «Ich hatte lange die Hoffnung, dass sich irgendwann jemand zurückmeldet. Aber ich habe bis heute niemanden mehr gefunden.» Sie entschied sich, auf ein Mental Coaching auszuweichen, wo sie sich gut aufgehoben fühlt. «Leider ist das Coaching nicht von der Krankenkasse anerkannt.» 

Auf die Frage, was es bräuchte, um der Problematik entgegenzuwirken, sieht J. zwei Möglichkeiten: Entweder müsste es mehr Anlaufstellen geben oder zusätzliche Angebote in Form von Selbsthilfegruppen. «Wichtig ist zu merken, dass man nicht alleine ist.»  

Hoher Kraftaufwand

H.* ist 26 Jahre alt und seit etwa einem Jahr in psychologischer Betreuung. Auch bei ihr wurde eine Depression diagnostiziert. «Zuerst war ich beim Psychiater und nach dem Klinikaufenthalt im Sommer bei einer Psychologin.» Bald darauf fiel ihre Therapeutin aus. «Dann hatte ich plötzlich niemanden mehr, weil es einfach keinen Ersatz gab», berichtet H. Auch sie war in der Breitenau im Kriseninterventionszentrum. «Dort wurde ich abgewimmelt und erhielt eine Liste mit den Namen von Psychiaterinnen und Psychiatern in Schaffhausen», so H. «Diese begann ich durchzutelefonieren.» Mindestens zehn Anrufe habe sie getätigt, überall die Antwort: In den nächsten ein bis zwei Monaten ist nichts mehr möglich. «Wenn man sowieso keine Kraft hat und dann noch abgewiesen wird, hat man schlussendlich noch weniger Lust, nochmal jemandem anzurufen.» Sie würde sich wünschen, dass auf einer Webseite ersichtlich ist, ob eine Therapeutin oder ein Therapeut noch freie Kapazität hat. «Absagen sind für mich sehr schwer zu verkraften.»

H. ist nun in einer psychologischen Beratung untergekommen. «Mein Glück ist, dass die Therapeutin auch diplomierte Psychologin ist. Ich fühle mich bei ihr sehr gut aufgehoben.» Was auch sie bedauert: Dass ihre Krankenkasse bei der psychologischen Beratung im Gegensatz zur Psychotherapie nur 1000 Franken pro Jahr übernimmt. «Ich weiss nicht, ob ich es mir so leisten kann, meine Krankheit langfristig zu behandeln.» Dazu komme der enorme bürokratische Aufwand mit der Krankenkasse. «Man muss sich beispielsweise um jede Überweisung über den Hausarzt selbst kümmern. Das ist eine grosse Hürde, die einen schnell hemmen kann.» 

Zehn Absagen aus zehn Anfragen – im Kanton Schaffhausen ist es sehr schwierig, einen Psychotherapieplatz zu finden. Darunter leiden nicht nur die Hilfesuchenden, sondern auch die Therapeutinnen und Therapeuten. Bild: Lara Gansser, Schaffhausen24

«Es ist nicht bewältigbar»

Die Situation für Betroffene ist bedauernswert. Doch nicht besser ist die Situation für die Therapeutinnen und Therapeuten. «Für uns Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ist die Situation sehr schwierig. Der immense Bedarf an Therapieplätzen ist eine grosse Herausforderung», so Doris Künstner. Die selbständig tätige Psychotherapeutin ist Präsidentin des Schaffhauser Psychotherapeutinnen- und Psychotherapeutenverbands (SCHaP). Seit 25 Jahren arbeitet sie als Psychologin, seit 15 Jahren in einer eigenen Praxis inmitten der Schaffhauser Altstadt. «Der Durchschnitt liegt bei ein bis zwei Anfragen pro Tag, gestern waren es sogar vier», erzählt Doris Künstner. «Es ist nicht bewältigbar und wird immer mehr.» Nochmals angezogen habe die Problematik seit Sommer 2022 mit dem Entscheid, dass auch Psychotherapien bei Psychologinnen und Psychologen über die Grundversicherung abgerechnet werden dürfen – ein sehr wichtiger Schritt in Bezug auf die Grundversorgung der Bevölkerung. «Es ist grundsätzlich erfreulich, dass immer mehr Menschen Psychotherapie in Anspruch nehmen», so Doris Künstner und ergänzt. «Aber das Leid der Betroffenen zu spüren und absagen zu müssen, ist sehr schwierig für uns.» Doris Künstner führt keine Warteliste mehr. Zur Option eines Ampelsystems meint sie nur: «Bei uns wären immer alle Ampeln rot. Und wenn ein Platz frei ist, klingelt innert der nächsten Stunden schon wieder das Telefon.» 

««Wöchentlich sind es 10 bis 15 Anfragen für Therapieplätze»»
Andreas Reich, Facharzt Bereich Psychiatrie und Psychotherapie

Zuweisungen fast unmöglich

Andreas Reich ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er präsidiert den Verein Schaffhauser Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie (SAPP), das Pendant zum SCHaP. «Die Psychotherapie ist unser gemeinsames Feld», so Andreas Reich. Seine Aussagen decken sich zu einem grossen Teil mit denen von Doris Künstner. «Die Dauerbelastung ist auch eine riesige Herausforderung für unsere niedergelassene Ärzteschaft», sagt der Facharzt. «Zuweisungen zu einem Psychiater sind fast unmöglich.» Die Problematik sei auch vor 20 Jahren schon ein Thema gewesen, habe aber in den letzten Jahren massiv an Brisanz gewonnen. «Wir haben schlicht eine Unterversorgung», so Andreas Reich. «Und die Nachfrage nimmt weiter zu.» 

Neben dem steigenden Druck in der Gesellschaft trägt die Enttabuisierung von psychischen Erkrankungen massgeblich dazu bei, dass mehr Betroffene Hilfe suchen. «Es wächst eine Generation heran, die viel offener mit der Thematik umgeht, das ist sehr erfreulich», so Andreas Reich. Wöchentlich sind es zehn bis 15 Anrufe, Mails und Zuweisungen, welche an den Psychotherapeuten gelangen. 

Wo er den Hauptgrund für den Fachkräftemangel sieht? Es werden viel zu wenig Leute ausgebildet – und von den ausgebildeten finden nur wenige in die Psychiatrie. «Wir sind die am schlechtesten bezahlte Ärztegruppe», so Andreas Reich. Auf Psychologen-Seite sieht es ähnlich aus: «Das, was wir jetzt haben, ist das Resultat der bisherigen Rahmenbedingungen», sagt Doris Künstner. «Bis letzten Sommer war es sehr unattraktiv, eine eigene Praxis zu eröffnen.» 

«Wir brauchen mehr Therapieplätze»

Die gleiche Brisanz hat die Thematik bei den Spitälern Schaffhausen. Bernd Krämer, der seit 2017 als Chefarzt Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter Psychiatrische Dienste tätig ist, meint: «Der Mangel an Therapieplätzen besteht schon seit Jahren.» Neben dem massiven Fachkräftemangel sei auch die Finanzierung eine grosse Herausforderung. «Es wäre zwingend notwendig, dass wir mehr ambulante Therapieplätze anbieten können.» Bernd Krämer hofft, dass der Kanton Schaffhausen bald mit finanzieller Unterstützung auf das national brennende Thema reagiert. 

Das von den Betroffenen erwähnte Kriseninterventionszentrum sei zudem keine finale Therapiestelle. «Ziel ist es, hier einmalig innert 24 bis maximal 48 Stunden Hilfe anbieten zu können und bei der Suche nach einer Anschlusslösung zu unterstützen», so Bernd Krämer. «Doch hier sind wir wieder am gleichen Punkt – der Bedarf übersteigt das Angebot stark.» 

Die Diskussionen rund um das Thema laufen bei den Spitälern Schaffhausen auf Hochtouren. «Ein Lösungsansatz wäre, auf alternative Modelle auszuweichen», sagt Bernd Krämer. Hier sei Kreativität gefragt. «Ob Coaching, speziell ausgebildete Nurses oder digitale Tools – wir müssen Angebote finden, wo der 1:1-Kontakt mehr in den Hintergrund gerät.» 

Anlaufstellen schaffen

Als möglichen Lösungsweg schlägt Andreas Reich die Schaffung einer übergeordneten Anlaufstelle. «Hier können Fachpersonen aus unterschiedlichen Berufsgruppen zusammengeführt werden», so Andreas Reich. «Anfragen können entgegengenommen und entsprechend abgefedert und zugeordnet werden.» 

Weiter gewinne die Prävention und Gesundheitsförderung an Bedeutung. «Alles, was präventiv angegangen wird, ist sehr hilfreich und entlastet uns schlussendlich», so Doris Künstner. Denn ein Ende des Fachkräftemangels ist aktuell nicht in Sicht: Viele der tätigen Psychologinnen und Psychologen sowie Psychiaterinnen und Psychiater nähern sich dem Rentenalter. Abschliessend meint Doris Künstner: «Wichtig wäre ausserdem, dass der Stress und der Druck, mit dem wir leben, sowie die Ansprüche an uns selbst endlich kleiner werden», meint Doris Künstner. «Der stetige Effizienzgedanke tut uns nicht gut, wir sind keine Maschinen.»

*Namen der Redaktion bekannt

Lara Gansser, Schaffhausen24 / Goldküste24