Kollege Lorenz Steinmann hielt mir sein Handy vor die Nase. Der unermüdliche Stadterkunder hatte am Morgen des 12. Januar an der Neufrankengasse im Kreis 4 blühende Kirschbäume fotografiert. Wer liebt diese Bäume nicht? An ein paar Orten in der Stadt sind sie zu einer Sehenswürdigkeit geworden: rund um den Idaplatz in Wiedikon zum Beispiel oder entlang der gesamten Rotbuchstrasse, die den Schaffhauserplatz und den Bahnhof Wipkingen verbindet. Ihre rosafarbenen Blüten sind betörend, aber auch sehr vergänglich – nach ein paar Tagen ist der Zauber jeweils vorbei, und schnell tragen Trottoir und Strasse einen Blütenteppich. Eigentlich erstaunlich, dass die Stadt dieser flüchtigen Zierde, die sich so schnell von Schmuck zu Schmutz wandelt, so viel Raum gewährt. An viel stubenreineren Alleebäumen wäre ja kein Mangel ...
Zürich rosarötet sich also bereits – und es ist erst Mitte Januar. Auf unserem Balkon blühen derweil die Christrosen. Auf der Strasse liegen die letzten Weihnachtsbäume, der Abholung harrend. Zu erwarten wäre der «Bluescht» der japanischen Kirschbäume in frühestens zwei Monaten. Es ist ein mittlerweile vertrautes Dilemma: Soll man, darf man sich freuen? Wir fragen bei der Stadtverwaltung nach.
Eine hormonarme Japanerin
Tanja Huber von Grün Stadt Zürich weist mich darauf hin, dass der besagte Baum auf privatem Grund stehe und nicht im städtischen Baumkataster erfasst sei; eine Ferndiagnose aufgrund des zugesandten Bildes sei nicht möglich. Doch laut Mitarbeitenden der Stadtgärtnerei gebe es Kirschbäume, die im Winter blühen können. Ich schaue an der Bertastrasse nach: Die dortigen Kirschbäume blühen nicht. Die Exemplare an der Neufrankengasse gehören also offenbar einer speziellen Art an. Es dürfte sich um eine sogenannte Schnee- oder Winterkirsche handeln, eine Selektion der japanischen Higan-Kirsche. Bei der Winterkirsche ist das Hormon, das ein frühes Aufblühen verhindert, nur in geringer Menge vorhanden. Ein kurzer Kälteeinbruch reicht deshalb schon, um den Stoff abzubauen. Folgen danach ein paar milde Tage, wird die Vorblüte ausgelöst. Wir dürfen aufatmen. Völlig ausser Rand und Band ist die Natur also noch nicht.
Welchen Stellenwert haben aber nun Kirschbäume im Stadtbild? Einen hohen, antwortet Tanja Huber: weil sie so schön seien und emotional berührten. Bei Neupflanzungen achte die Stadt jedoch darauf, verschiedene Baumarten zu pflanzen. «Dies fördert die Biodiversität und mindert das Risiko bei Schädlingsbefall einer Baumart», hält Huber fest. «Wir achten aber auch darauf, dass historisch gewachsene Bilder erhalten werden. Wie das bei der Bertastrasse der Fall ist.»
Also: Notiz in die Agenda machen und ab etwa Mitte März dann regelmässig an der Bertastrasse bummeln gehen …