- von Bettina Weber, zusammengefasst Goldküste24
Innerhalb von 36 Monaten werden vom Konto der Seniorin mehr als 400'000 Franken bar abgehoben, das der Beistand für sie verwaltet. Ein Beistand darf kein Geld am Bancomaten beziehen. Wurde die Seniorin vom Beistand begleitet und dazu gedrängt, Geld abzuheben? Waren die beiden für die grossen Beträge am Schalter? Wozu braucht eine demente Frau soviel Geld? Die laufenden Rechnungen wurden über ein anderes Konto bezahlt. Es gibt keine Quittungen oder Rückschlüsse auf den Verbrauch des Bargeldes. Hat der Beistand das Geld für sich verwendet?
Vorsorgeauftrag als Schutz
Der verstorbene Ehemann der Seniorin wollte lediglich dafür sorgen, dass seine Frau nie etwas mit der Kesb zu haben würde, sollte ihm etwas passieren. Er liess bei den ersten Anzeichen ihrer Demenz einen Vorsorgeauftrag vom Vermögensverwalter erstellen, damit seine Frau einst geschützt sein würde. Darin sollte eine ihr nahestehende Person sich um die finanziellen Belange der zurückbleibenden Seniorin kümmern.
Es gab Hinweise, dass der Beistand Alkoholprobleme habe und spielsüchtig sei, dass er die Seniorin isoliere und manipuliere, und dass er es auf das Vermögen von ihr abgesehen habe. Offenbar wollte er die Seniorin auch dazu drängen, dass sie die Liegenschaft ihm überschreiben solle. Doch sämtliche Gefährdungsmeldungen aus dem Umfeld der Seniorin wurden von der Behörde ignoriert.
Man sichert sich vor allem deswegen mit einem Vorsorgeauftrag ab, damit sich die Kesb nicht einmischt, die dazu von Gesetzes wegen verpflichtet ist, sobald eine Person urteilsunfähig wird. Bevor der Vermögensverwalter dem Wunsch nachkommen kann, stirbt der Ehemann der Seniorin an Herzversagen. Und dann ist plötzlich dieser Beistand da. Die Umgebung ist irritiert und besorgt. Der Beistand ist ein Bekannter des Verstorbenen, zwanzig Jahre jünger, verheiratet, Vater einer Tochter. Er kümmert sich hingebungsvoll um die verwitwete Seniorin. Trotzdem sind ihrem Umfeld seine fast täglichen Besuche bald nicht mehr geheuer. Er bringt stets Alkohol mit, die beiden trinken zusammen viel. Niemand kennt ihn näher. Und er benimmt sich eigenartig.
Es gehen Meldungen bei der Kesb ein
So eigenartig, dass ein Nachbar der Seniorin nur drei Monate nach dem ersten Auftauchen von diesem Beistand, im November 2016, bei der Kesb Meilen eine schriftliche Gefährdungsmeldung macht. Darin empfiehlt er vier Vertrauenspersonen und betont explizit, der im Amt stehende Beistand eigne sich nicht. Der langjährige Vermögensverwalter meldet sich ebenfalls bei der Kesb. Er erklärt der Kesb, dass die Seniorin nicht mit dem Geld um sich werfen würde und auch keine plötzlichen Geschenke mache. Das Gesagte wird von der zuständigen Kesb-Mitarbeiterin in einer Telefonnotiz vom 15. Dezember 2016 festgehalten. Auch der Hausarzt der Seniorin meldet sich bei der Kesb, der sie schon 24 Jahre betreut. Der Hausarzt beschreibt das Gebaren des Beistandes als «merkwürdig». Genauso empfindet das die Ärztin, die den Hausarzt während dessen Ferien vertritt und beim Tod des Ehemannes in die Wohnung des Paares aufgeboten wird. Dort trifft sie auch auf den Beistand, dessen Verhalten sie als grotesk bis absurd beschreibt, weil er alkoholisiert immer wieder über den Toten steigt. Das alles wird von der Kesb-Mitarbeiterin in einer weiteren Telefonnotiz festgehalten.
Die einst sehr gepflegte Frau vernachlässigt sich. Im Januar 2017 meldet sich die in Kanada lebende Nichte der Seniorin bei der Kesb und äussert die Befürchtung, dass ihre Tante ihr Testament zugunsten des Beistandes geändert haben könnte.
Im selben Monat gelangt auch eine ehemalige Mitarbeiterin des Seniorenehepaars an die Kesb. In einem zweiseitigen Brief beschreibt sie, bei einem Besuch eine sehr verunsicherte Seniorin vorgefunden zu haben.
Doch niemand schaut hin
Viele schauten hin und nicht weg – umsonst. Die ehemalige Mitarbeiterin, die sich ihrer einstigen Chefin verbunden fühlt, kontaktiert den ehemaligen Zürcher Stadtarzt Albert Wettstein und bittet ihn um Hilfe. Nach einem Besuch bei der alten Dame schreibt Wettstein einen Bericht an die Kesb, in dem er die Seniorin für urteilsunfähig erklärt.
Der Nachbar, die ehemalige Mitarbeiterin, der Hausarzt, die Nichte, der Vermögensverwalter: Sie alle schauten nicht weg, sondern hin. Bloss interessierte sich die Kesb Meilen nicht für ihre Warnungen.
Im Gegenteil: Am 17. August 2017 ernennt die Behörde den Beistand auf Wunsch der dementen Seniorin zu ihrem privaten Beistand trotz der vielen Warnungen.
In den folgenden Monaten fordert die Kesb wie üblich ein Inventar Vermögensverhältnisse des Seniorenehepaares ein, das der Beistand nur mit Verspätung abliefert. Es gibt immer wieder zahlreiche Unstimmigkeiten, man stellt fest, dass er schleppend seinen Verpflichtungen nachkommt. Auch eine Kesb-Mitarbeiterin äussert ihr Befremden gegenüber den ganzen Bankgeschäften, die der Beistand veranlasste. Über den Verbleib des vielen Bargeldes kann der Beistand keine Auskunft geben.
Die Schwägerin wird hellhörig
Die Kesb-Mitarbeiterin belässt es dabei, das Gespräch bleibt folgenlos. Während der Beistand weitermachen kann wie bis anhin, treffen bei der Kesb neue Gefährdungsmeldungen ein. Es geht dabei längst nicht mehr nur um die finanziellen Belange, sondern auch um Vernachlässigung. Es wird gefordert, dass der Beistand behördlich überwacht werden müsse. Der Beistand setzt den Hausarzt und die Spitex-Pflege ab. Es besteht der Verdacht, dass die Seniorin eingesperrt wird und von einer Reinigungskraft ohne jegliche medizinischen Fachkenntnisse versorgt werde. Eine Schwester des verstorbenen Ehemannes wird bei einem unangemeldeten Besuch der Seniorin hellhörig.
Sie kontaktiert die Altersbeauftragte der Gemeinde. Diese erstattet nach einem Besuch vor Ort eine Gefährdungsmeldung an die Kesb; es sei für sie «offensichtlich, dass die Seniorin in gewisser Weise der Beeinflussung vom Beistand unterstehe».
Niemand fühlt sich angesprochen
Durch einen Oberschenkelhalsbruch ist es im April 2021 nicht mehr möglich, dass die Seniorin nach Hause kann, doch der Beistand informiert niemanden. Die Schwägerin verzweifelt und meldet sich beim Präsidenten der Kesb Meilen und schildert all ihre Bedenken, doch es passiert nichts.
Der Präsident der Kesb Meilen findet das alles genauso wenig bedenklich wie seine Mitarbeiterin. Er schreibt der Schwägerin zurück, er habe sich «einen Überblick über das Dossier verschafft» und komme zum Schluss, «dass eine Intervention seinerseits nicht angezeigt ist». Man nehme das Anliegen ernst. Bitte aber um Verständnis, «dass wir Sie nicht über von uns getätigte Abklärungen und Massnahmen informieren können».
Die Schwägerin besucht die Seniorin und findet heraus, dass die sie inzwischen in einer Altersresidenz untergebracht ist, wo sie in einem Doppelzimmer ohne persönliche Gegenstände oder irgendetwas aus ihrer alten Wohnung untergebracht ist. Die Besuche durften nur 30 Minuten dauern und fanden unter Aufsicht statt, so hat es der Beistand bestimmt. Das Personal habe nicht gewusst, dass die Seniorin noch Verwandte habe.
Wenige Monate später melden sich auch besorgte Nachbarn bei der Kesb: «Unserer Ansicht nach sollte geprüft werden, ob der Beistand seinen Aufgaben unbefangen und zum Wohle der Betroffenen ohne eigennützige Gedanken nachgeht.» Sie schildern, dass der Beistand Sachen aus der Wohnung der Seniorin transportiert habe.
Ende 2021 stirbt der Beistand unerwartet mit 65 Jahren. Die Schwägerin engagiert einen Anwalt, der zum Beispiel wissen möchte, ob die Kesb Meilen der Meinung sei, «den Beistand sorgfältig ausgewählt und sorgfältig genug instruiert und überwacht zu haben». Und weshalb «jedwelche Nachforschungen seitens der Kesb unterblieben und auch keine Strafanzeige eingereicht» worden sei, zumal «mehrere Drittpersonen wiederholt auf Unstimmigkeiten im Verhalten des Beistandes» hingewiesen hätten.
Der ehemalige Vermögensverwalter hat die Sozialarbeiterin schon 2016 darauf hingewiesen, dass die Seniorin eine sparsame Frau sei. Die zuständige Sozialarbeiterin der Kesb Meilen ist sich keiner Schuld bewusst. Sie antwortet: «Eine verbeiständete Person darf ihr Geld verbrauchen und es darf zu einem Vermögensverzehr kommen, solange ihre Existenz bzw. ihr Lebensunterhalt gesichert bleiben.»
Sie hält weiter fest, das Geld, das einer verbeiständeten Person zur Verfügung stehe, «muss bezogen auf ihre Situation, unter Berücksichtigung ihres Lebensstandards und ihrer bisherigen Gewohnheiten, und im Verhältnis zu ihrem Gesamtvermögen beurteilt werden».
Gerade darauf hat aber der ehemalige Vermögensverwalter die Sozialarbeiterin in einem Telefonat schon im Dezember 2016 hingewiesen, in den Akten befindet sich die entsprechende Notiz: dass die Seniorin eine sparsame Frau sei. Die ganzen Umstände deuteten daraufhin, dass etwas nicht stimmen könne. Doch auch der Anwalt kommt nicht weiter. Niemand fühlt sich verantwortlich für die verschwundenen 450’000 Franken und das selbstherrliche Gebaren des Beistandes gegenüber der Schutzbedürftigen.
Die Kesb Meilen erklärt auf Anfrage der SonntagsZeitung, sprächen «Hinweise gegen die Einsetzung einer bestimmten Person als Beistand», würde diesen «nachgegangen» und in die Beurteilung miteinbezogen. Es sei möglich, «dass das Umfeld eine Person als ungeeignet erachtet, die nähere Prüfung durch die Behörde aber ergibt, dass die Eignung dennoch gegeben ist». Der Wunsch der zu verbeiständenden Person werde «im Blick auf das Selbstbestimmungsrecht hoch gewichtet».
Aber was, wenn Hinweise vorliegen, dass die schutzbedürftige Person – wie die Seniorn – ja eben gerade bei der Wahl des eigenen Beistandes manipuliert wird? Kann dann noch von «selbstbestimmt» die Rede sein? Wird damit nicht vielmehr Sinn und Zweck einer Beistandschaft ad absurdum geführt?
Hat eine Haftungsklage Chancen?
Auf Anfrage erklärt die Aufsichtsbehörde der Kesb im Kanton Zürich, das Gemeindeamt, zum konkreten Fall keine Auskunft geben zu können. Man trage aber «zur Qualitätssicherung und -entwicklung bei», wobei der Schwerpunkt auf der «präventiven Aufsicht» liege.
Die Schwägerin prüfte eine Haftungsklage gegen den Kanton. Auf ein entsprechendes Gesuch erteilte das dafür zuständige Zürcher Finanzdepartement dem Ansinnen einen abschlägigen Bescheid, da eine Schwägerin nicht klageberechtigt sei. Das müsse die Seniorin selbst machen oder der Beistand.
Der Neue wurde als neuer Berufsbeistand mandatiert – und müsste damit als eine seiner ersten Amtshandlungen gegen die eigene Arbeitgeberin, die Kesb Meilen, vorgehen. Doch dieser erklärt, dass die Sache verjährt sei. Im Dezember korrigiert er sich und sagt aus, dass die Sachlage und die Beweise» würden «eher für eine Haftungsklage» sprechen.
Inzwischen geht es der Seniorin und deren Schwägerin sehr schlecht, sie haben keine Zeit mehr, die Behörden schon.