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14.12.2022

Sepp Blatter: «Blicke ich in den Iran, bin ich bestürzt»

Noch immer ein Teil der Realität: Frauen im nahen Osten haben nicht überall Zutritt zu den Stadien. Bild: Linth24
Fussball als Mittel zu Chancengleichheit und Integration. Sepp Blatter über positive Beispiele im nahen Osten - und die menschenrechtliche Katastrophe im Iran.

Im Jahr 1995 sagte ich an der Frauen-WM in Schweden: «Die Zukunft des Fussballs ist weiblich». Heute spielen über 100 Millionen Frauen und Mädchen Fussball – in sämtlichen 211 Nationalverbänden der Fifa; sogar in Ländern wie Saudi Arabien oder Katar, wo die Rechte der Frauen weiterhin stark beschnitten sind. Besonders bei den Juniorinnen boomt der Fussball: 15 Prozent aller Nachwuchsfussballer sind Fussballerinnen.

Frauenfussball in Deutschland bis 1970 verboten

Doch das war nicht immer so – auch in der Schweiz nicht. Bis weit in die 1980-er Jahre sahen sie sich die Schweizer Frauen auf dem Fussballplatz ähnlich in die Defensive gedrängt wie auf politischem Parkett. In Deutschland hatten die kickenden Frauen vom DFB 1955 sogar die Rote Karte gesehen: «Im Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Schicklichkeit und Anstand», lautete die Begründung der strengen Funktionäre. Sollten die Mitgliedsvereine des DFB dennoch Damenfussball anbieten, drohte ihnen Strafe.
Erst 1970 wurde das Verbot aufgehoben. Allerdings galten vorerst andere Spielregeln als bei den Männern: Die Spiele dauerten nur zweimal 35 Minuten, der Ball war kleiner und leichter. Stollenschuhe durften die Spielerinnen nicht tragen. Zu viel wollte man ihnen nicht zumuten.

Tempi Passati. In keinem anderen Bereich unseres Sports ist das Wachstumspotenzial grösser – und die Möglichkeit, soziale und gesellschaftliche Barrieren zu überwinden ausgeprägter. Der Fussball kann den Frauen jene Wertschätzung und jenes Selbstverständnis vermitteln, die ihnen im Alltag zu oft verwehrt bleiben - selbst in Ländern, in denen sie aus kulturellen Gründen kaum in Erscheinung treten dürfen.

Kopftücher erlaubt

Die Fifa hat zusammen mit dem International Football Association Board die Wichtigkeit dieser Thematik schon vor acht Jahren erkannt – und setzte gerade in der islamischen Welt ein wichtiges Zeichen. Es bestätigte 2014 die Erlaubnis zum Tragen von Kopftüchern in offiziellen Fussballspielen – und öffnete damit Millionen von Mädchen und Frauen die Tür zum Fussball.

Doch nicht überall ist die Bereitschaft zum Umdenken gleich gross. Als ich im November 2013 in den Iran reiste, wurde ich dort nicht nur mit der grossen Begeisterung der Menschen für den Fussball konfrontiert – sondern auch mit einem Gesetz, das den Frauen den Besuch von Fussballstadien verbietet. Anlässlich des Treffens mit dem damaligen Staatspräsidenten Hassan Rohani sprach ich das Thema an – und hatte das Gefühl, dass sich diese untragbare Situation mittelfristig ändern könnte. Sie wurde geändert – zumindest vorübergehend.

Zustände wie im Mittelalter

Blicke ich heute in den Iran, bin ich bestürzt. Es ist, als wäre das Rad der Zeit zurückgedreht worden – bis ins Mittelalter. Auf der ganzen Welt wird der Iran für die Diskriminierung der Frauen scharf verurteilt. Dass die iranische Fussball-Nationalmannschaft unter diesen Voraussetzungen an der Weltmeisterschaft in Katar teilnehmen durfte, war fragwürdig. Es wäre an der Fifa gewesen - wie in anderen Fällen auch -, klar Stellung zu beziehen – und dem totalitären Regime zu signalisieren, dass man diese menschenverachtenden Zustände nicht billigt.

Sepp Blatter